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Band 4 - m-presse

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122 Viertes Buch. Dritter Abschnitt<br />

schließliche Betrachtung des Objekts, von dem doch das Subjekt nichts weiß,<br />

nicht ein ahnungsloser Rückfall in die Metaphysik ist? Littré behauptet<br />

zwar mit Recht, daß der Psychologismus nicht mit Sicherheit zwischen<br />

Materialismus und Deismus gewählt habe, daß der Positivismus Comtes<br />

viel schärfer die Fragen nach der ersten Ursache abgelehnt habe; daß Comte<br />

diese erste Ursache, das "Unerkennbare" von Spencer, einfach das „Unbekannte"<br />

genannt und es so von seiner Erfahrungsphilosophie ausgeschlossen<br />

habe. Diese Verteidigung Comtes ist einigermaßen im Rechte<br />

gegen die Unklarheiten Mills; aber der Atheismus Comtes ist doch nur ein<br />

Agnostizismus, leugnet doch nur die Möglichkeit eines Wissens von Gott,<br />

reicht an den positiven Atheismus etwa eines Hume nicht heran.<br />

Die Religionsstiftung Comtes gibt Littré stillschweigend preis und<br />

wird seinem sozialistischen Ideale nicht ganz gerecht. Comte hat als erster,<br />

mit glühender Seele und mit harter Wissenschaftlichkeit, die beiden führenden<br />

Gedanken von 1793 bis zu Ende gedacht: die Gesamtmenschheit von<br />

der Gottesvorstellung zu befreien und aus eigener Kraft zum höchsten<br />

Grade der sinnlichen und seelischen Wohlfahrt emporsteigen zu lassen.<br />

Leider hat auch er es nur in einem "System" vollbracht.<br />

Die Darstellung der Rolle, welche der Sozialismus in dem Kampfe<br />

um Gott seit der Restauration spielte, hat mich natürlich zu Saint-Simon,<br />

Proudhon und Comte geführt, also zu der Geschichte der besonderen<br />

französischen Geistesbewegung. Ich habe schon eingestehen müssen, daß<br />

ich die Entwicklung des abendländischen Atheismus nicht so universell<br />

durchzuführen vermag, für die letzten hundert Jahre, wie für die Jahrhunderte<br />

vor der großen Revolution. Einfach, weil der Stoff unübersehbar<br />

ist. Und sich der Ordnung um so mehr versagt, als die Ereignisse uns näher<br />

sind. Ich werde mich darauf beschränken müssen, für das unruhige Frankreich,<br />

für das konservative England, für das halbasiatische Rußland und für<br />

das trotzige Skandinavien mich auf Stichproben zu beschränken und eine<br />

gewisse, natürlich sehr mangelhafte, Vollständigkeit nur für Deutschland<br />

anzustreben, das ja wirklich in dieser Zeit die Führung zu innerer Freiheit<br />

zu übernehmen schien.<br />

Dritter Abschnitt<br />

Frankreich<br />

"Dem Volke muß die Religion erhalten bleiben", das war der Regierungsweisheit<br />

letzter Schluß, nachdem sich die Wut gegen die Religion<br />

ausgetobt hatte. Wir sehen diese Weisheit jetzt nahe an einhundertzwanzig<br />

Frankreich 1 23<br />

Jahre am Werke, bald beinahe offenherzig zynisch, wie in den Verhandlungen<br />

Napoleons mit dem Papste, da doch seine Beteuerungen der Unterwürfigkeit<br />

neben seinen rücksichtslosen Befehlen von höhnischer Ironie nicht gar<br />

weit entfernt sind; bald mehr oder weniger heuchlerisch, wie in manchen<br />

deutschen Staaten und neuerdings besonders in Italien, wo man den<br />

Teufel der Sozialdemokratie mit dem Beelzebub Religion austreiben<br />

möchte; bald endlich unklar und rückständig bei den herrschenden Klassen<br />

Deutschlands und Englands, die sich noch für modern halten, wenn sie<br />

dem Aberglauben der Massen den Deismus des 18. Jahrhunderts entgegensetzen<br />

und gerade dadurch zur Konservierung des Aberglaubens<br />

beitragen.<br />

Auch in Frankreich fehlt es nicht an solchen lauen Deisten, und gerade<br />

gegenwärtig scheint die Modephilosophie (Bergson) dem echt französischen<br />

Kultus der Vernunft bei der Oberschicht entgegenzuarbeiten; es wäre nicht<br />

unmöglich, daß die Franzosen mehr als einhundertfünfzig Jahre nach der<br />

Encyclopédie und dem "Ecrasez l'infâme" wieder fromm würden, wie<br />

sie die Heiligsprechung der Pucelle betreiben, aus politischen Gründen.<br />

Der Weg, den die französische Geisteswissenschaft (im Gegensatze zu<br />

der im ganzen recht fleischlichen schönen Literatur) nahm, wird uns begreiflicher,<br />

wenn wir beachten, wie oft und wie gefügig dort die offiziöse<br />

Universitätsphilosophie den Dienst der Gegenrevolution besorgte. Die<br />

katholische Antiphilosophie setzte (mit Châteaubriand, Frau von Sta\" el und<br />

Joseph de Maistre) sofort ein, und auch Lamennais (geb. 1782, gest. 1854),<br />

zuerst fanatisch päpstlich, dann scheinbar "humanitär", blieb im Grunde<br />

immer christlich und verblasen katholisch; auch Destutt de Tracy (geb. 1754,<br />

gest. 1836), der für Napoleons ironischen Sprachgebrauch alle Geisteswissenschaft<br />

mit „Ideologie" übersetzte, kehrte zu einem vorsichtigen Eklektizismus<br />

zurück; der für die geistige "Restauration" meist verantwortliche<br />

Professor (nach deutschem Muster) ist aber Viktor Cousin gewesen (geb. 1792,<br />

gest. 1867), der als Fünfundzwanzigjähriger mit Hegel, Schelling und<br />

Goethe in persönliche Berührung kam, sogar ein Berliner Gefängnis kennen<br />

lernte, zuerst einen dünnen Pantheismus lehrte, dann aber für Kriegsrecht,<br />

Absolutismus und Descartes eintrat und so nach der Julirevolution sogar<br />

Unterrichtsminister wurde. Geistig abgrundtief unter Hegel, ein gewöhnlicher<br />

Philosophieschreiber, hat er dennoch in den philosophischen Fakultäten<br />

Frankreichs durch Jahrzehnte so geherrscht wie Hegel etwa in Deutschland.<br />

Die Kirche durfte mit Cousin so zufrieden sein, daß sie ein Menschenalter<br />

später, nach Errichtung der Republik von 1870 und ihrem Naturalismus,<br />

den verzweifelten Mut fand, im Geiste Cousins den heiligen Thomas<br />

als den Mann der einzig wahren Staatsphilosophie auszurufen.

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