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Band 4 - m-presse

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366 Viertes Buch. Neunter Abschnitt<br />

bender Übermensch. Der Antichrist, der heute unter uns mit seinen Sehnsüchten<br />

noch blutreicher lebt, mit seinen Verschweigungen, als einst mit<br />

seinen Büchern, als Prediger einer grundlosen Lebensfreude, ist kein Gott<br />

geworden, nicht einmal ein Religionsstifter, ist aber vielleicht — so faßte<br />

ihn auch Raoul Richter — der Täufer, der Namengeber, einer neuen<br />

kirchenlosen, gottlosen Religion, einer von Erkenntnis und Schönheit<br />

trunkenen Ekstase, einer gottlosen Mystik.<br />

Die Verbindung von sehnsüchtiger Mystik und fanatischem Gotteshaß<br />

ist bei Nietzsche niemals dichterischer herausgekommen als in der<br />

"Fröhlichen Wissenschaft", die er schon 1882 niederschrieb, in glücklichen<br />

Stunden. "In jeder Religion ist der religiöse Mensch eine Ausnahme."<br />

Der Instinkt des religiösen Menschen in ihm verwirft die Kirche, nicht (wie<br />

bei einigen seiner Basler Freunde) die Dogmengeschichte. "Jetzt entscheidet<br />

unser Geschmack gegen das Christentum, nicht mehr unsere Gründe."<br />

Der so leicht beleidigte Gott ist ein ehrsüchtiger Orientale. Und in den<br />

angehängten, oft wundervollen "Liedern des Prinzen Vogelfrei" steht<br />

gar die Parodie auf Goethe, die mit den Versen beginnt:<br />

"Das Unvergängliche<br />

Ist nur dein Gleichnis!<br />

Gott der Verfängliche<br />

Ist Dichter-Erschleichnis."<br />

Nietzsche starb schon 1889 seinen geistigen Tod, erst 1900 den anderen<br />

Tod, den Ärzte und Leichenbeschauer bestätigen. Doch so raschlebig ist unsere<br />

Zeit, daß kaum fünfzehn Jahre nach der Beerdigung des Umwerters das<br />

geschah, was früher Jahrhunderte brauchte: die Umgestaltung eines tragischen<br />

Helden zu dem Helden eines Dramas oder eines Romans. Ein Frühvollendeter,<br />

der genialische Dichter Gustav Sack — geb. 1885, gefallen als<br />

Opfer des Weltkrieges 1916, irgendwo in Rumänien — hatte 1913 den<br />

verwegenen Plan gefaßt, nicht nur das äußere Schicksal eines wahnsinnig<br />

werdenden Übermenschen, sondern auch die ganze einzige Persönlichkeit<br />

Nietzsches in die Form eines modernen Romans zu gießen. Ihm schwebte<br />

etwas wahrhaft nicht Kleines vor (er hat etwas Ähnliches dann im letzten<br />

Auftritte seines Dramas "Der Refraktär" versucht): wie ein Naturmensch<br />

den noch vegetierenden Organismus, in welchem einst eine hohe Seele<br />

lebte, mit der Axt erichlägt und ihn wie einen lästigen Stein in den Abgrund<br />

stößt. Die Geisteskrankheit sollte offenbar nicht plötzlich über den<br />

Denker kommen, sondern furchtbar langsam, bei fast wachem Bewußtsein.<br />

Das Werk sollte "Im Hochgebirge" heißen, bekam dann den Titel "Paralyse".<br />

Leider blieb Sack seinem Plane nicht treu; was er (Anfang 1914)<br />

Nietzsches Schwester 367<br />

niederschrieb, entstand unter Eindrücken einer militärischen Übung, die<br />

weder mit Nietzsche noch mit dem Hochgebirge etwas zu schaffen hatten,<br />

nicht wirklich und nicht symbolisch. Es ist ein Fragment geblieben, das für<br />

den flatternden Zustand des jungen Dichters Sack mehr sagt als für das<br />

Auslöschen Nietzsches.*) Dessen Schwester und erste Biographin wäre wohl<br />

über ein solches Buch entsetzt gewesen.<br />

Es war nicht gut für die Auswirkung des stolzen und freien Geistes Nietzsches<br />

von Friedrich Nietzsche, daß er ein Modeschriftsteller wurde, daß er von den<br />

Vielzuvielen gelesen wurde, daß unkritische Verehrer sein Ansehen zu<br />

mehren glaubten, wenn sie seine unbeträchtlichen menschlichen und seine<br />

größeren philosophischen Schwächen nicht wahr haben wollten. Es ist<br />

tragisch, daß er, der im Leben keinen ebenbürtigen Freund gefunden hatte,<br />

auch nach seinem Tode keinen ebenbürtigen Erben fand. Auch Frau Elisabeth<br />

Förster-Nietzsche, die er — abgesehen von der kurzen Zeit seines<br />

Zornes über sie — immer mit Herzenshöflichkeit behandelt hat, hatte im<br />

Grunde keinen Sinn für den Dämon ihres Bruders. Mit liebevoller und<br />

eifersüchtiger Sorge stand sie seiner Entwicklung gegenüber, ohne seine<br />

Überlebensgröße zu ahnen, eine unbarmherzige Schwester wurde sie<br />

dann seinen nächsten Freunden, um sich endlich aufopfernd treu und<br />

mütterlich dem Geisteskranken zu widmen und mit leidenschaftlicher Unduldsamkeit<br />

seinem Andenken. Ein ähnliches Bild von ihr kommt vielleicht<br />

heraus, wenn man die Darstellung von Franz Overbeck durch die Rechtfertigung<br />

verbessert, die Richard M. Meyer, in seiner Nietzsche-Biographie<br />

versucht hat, gerecht abwägend. Die starke Frau hat so entschiedene Verdienste<br />

um das Kleine, wozu ich nicht nur die Materialien zur Lebensgeschichte<br />

und viel Überflüssiges aus dem Nachlasse rechne, sondern auch<br />

seinen äußerlichen Ruhm, daß ihr sehr viel vergeben werden kann, was sie<br />

im Großen verfehlt hat. Und daß sie, wieder geistig eifersüchtig, übrigens<br />

beschränkt antisemitisch, darin ganz in Übereinstimmung mit dem schwer<br />

gekränkten Hause Richard Wagner, auch Paul Rée arg herabsetzte, wird<br />

einmal die Geschichte berichtigen. Wichtig sind mir solche Menschlichkeiten<br />

nicht; nicht einmal, daß Nietzsche selbst in glücklicher Zeit Rée seinen Freund<br />

und Vollender genannt hat; oder daß wiederum Rée seinem Nietzsche stark<br />

beeinflussenden "Ursprung der moralischen Empfindungen" dem Freunde<br />

mit der entzückenden Widmung überreichen durfte: „Dem Vater dieser<br />

*) Ich darf hoffentlich hinzufügen, ohne falsch verstanden zu werden, daß Gustav Sack<br />

zu dem Romane "Paralyse" — er stellte sich seine Entwürfe gern schon vollendet vor — gleich<br />

ein Vorwort hinterlassen hat, das in seiner letzten Fassung mit fast romantischer Ironie auf<br />

die Entlehnungen hinweist, die meinem "Wörterbuch der Philosophie" entnommen sind.<br />

Es handelt sich da immer um eine sprachkritische Deutung Nietzsches. (Vgl. „Gesammelte<br />

Werke von Gustav Sack", herausgegeben von Paula Sack, I. Bd. S. 38 f.)

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