Band 4 - m-presse
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160 Viertes Buch. Vierter Abschnitt<br />
er brachte es fertig, die neuen bibelstürzenden Hypothesen von Lyell und<br />
Darwin freudig zu begrüßen und sich dennoch in seinem Christenglauben<br />
nicht irremachen zu lassen.<br />
Durch Unterhaltungsromane, die dem englischen Chauvinismus<br />
schmeichelten, wurde zuletzt seine Popularität noch größer, als sie durch die<br />
Verkündigung eines christlichen Sozialismus geworden war. In seinem<br />
Bewußtsein war Kingsley gottselig, also wahrlich weder gottlos noch aufklärerisch;<br />
in seiner Wirkung jedoch untergrub er, wie früher einige französische<br />
Sozialisten (Lamennais), das Ansehen der Bibel als einer Stütze<br />
der Kirche. Durch die Religionssozialen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
wurde der Gottmensch Jesus Christus, der Heiland der sündigen Welt, langsam<br />
in einen vorbildlichen Menschen umgewandelt, dessen Reich gar sehr<br />
von dieser Welt war, der die Armen aus körperlicher und moralischer Not<br />
zu befreien lehrte. Wurde so die Bibel zu einem Lehrbuche der Freiheit<br />
gemacht, so war die bisherige rationale oder geschichtliche Bibelkritik überboten.<br />
Auf Kingsleys Wegen geht die viel begabtere Dichterin George<br />
Eliot, die Gattin von George Henry Lewes, der in Deutschland fast nur<br />
als der erste gute Biograph Goethes bekannt ist.<br />
Lewes Aber Lewes (geb. 1817, gest. 1878) war einer der wenigen ganzfreien<br />
Engländer, die der öffentlichen Meinung keine Zugeständnisse machten;<br />
ein kontinentaler Mensch, an Goethe und an Comte gebildet, so ein Eigener<br />
geworden. In seiner sehr lesenswerten „Geschichte der Philosophie von<br />
Thales bis Comte" ist er streng (nicht unselbständig) positivistisch und leugnet<br />
mit der Möglichkeit der Metaphysik jedes Wissen vom Überirdischen; gegen<br />
Aristoteles hat er ein besonderes, vorzügliches Buch geschrieben; in späteren<br />
Schriften läutert er sich — unter dem Einfluß von Spencer, doch höher als<br />
Spencer — zu einem beinahe deutschen Agnostizismus, der dem "Gefühle"<br />
(auch dem gottlos religiösen Gefühle) seine Bedeutung zuerkennt und bei<br />
der äußeren Erfahrung nicht stehen bleibt.<br />
Swinburne Unter solchen Einwirkungen der Philosophie und Naturwissenschaft<br />
— auch kontinentalen Einflüssen — konnte es nicht ausbleiben, daß in der<br />
zweiten Hälfte des Jahrhunderts selbst in dem wohlanständigen England<br />
die sinnenfrohe Dichtung (fleshly school) wieder emporkam, die man im<br />
ersten Drittel des Jahrhunderts in Bann und Acht getan hatte. Diese<br />
Dichter übertrafen den einst von der Gesellschaft ausgestoßenen Lord<br />
Byron noch an wundervoll gebändigter Sprachform und an ungebändigter<br />
Kraft gegen das Christentum. Von den Poeten dieser Schule will ich nur<br />
ihren leidenschaftlichsten nennen, Algernon Charles Swinburne (geb. 1837,<br />
gest. 1909), der schon in dem Tannhäuser-Gedichte „Laus Veneris" (man<br />
kann es auch in der vorzüglichen Nachdichtung von Hedwig Lachmann<br />
Swinburne 161<br />
genießen) den alten Sagenstoff ganz frei umgeschaffen hatte. In dem alten<br />
Liede, dann bei Heinrich Heine und noch viel frömmer bei Richard Wagner,<br />
hatte der liebe Gott das Urteil des bösen Papstes gnädig umgestoßen.<br />
Bei Swinburne befreit sich Tannhäuser selbst; nicht von der Liebesgöttin,<br />
nein, vom Glauben an Sünde und Himmel:<br />
„Fürwahr, es gibt kein besser Los als dies,<br />
Daß mir bekannt der Liebe Bitternis,<br />
Und daß uns aus der eisigen Region<br />
Der Himmelsräume dann ein Bannstrahl stieß."<br />
Tannhäuser kehrt lachend, selig in den Venusberg zurück.<br />
Viel mehr shocking ist das große Gedicht "Vor Christi Kreuz" (Before<br />
a crucifix); viele Strophen scheinen sich zuerst, mit Ehrfurcht vor der erbarmungsreichen<br />
Lehre Jesu, nur gegen die christliche Hierarchie zu richten,<br />
die des Heilands Blut und Liebe in Gift und Münze verwandelt hat. Die<br />
letzten Verse sind aber, in aller Sprachschönheit, eine naturalistisch grauenhafte<br />
Verwünschung der christlichen Religion selbst. Ich setze sie englisch her,<br />
weil ich keine würdige Übersetzung kenne und mich nicht selbst an die Wiedergabe<br />
so gedrängter Verse heranwage.<br />
„Thou bad'st, let children come to thee;<br />
What children now but courses come?<br />
What manhood in that God can be<br />
Whom sees their worship, and is dumb?<br />
No soul that lived, loved, wrought and died,<br />
Is this their carrion crucified.<br />
Nay, if their God and thou be one,<br />
If thou and this thing be the same,<br />
Thou shouldst not look upon the sun;<br />
The sun grows haggard at thy name.<br />
Come down, be done with, cease, give o'er;<br />
Hide thyself, strive not, be no more."<br />
Vor dreihundert Jahren wäre Swinburne für dieses Gedicht — nur<br />
daß es damals auch innerlich unmöglich war*) — lebendig verbrannt<br />
worden; heute lesen es die jungen Leute unter der Schulbank.<br />
*) Aber vor zweihundert Sahren schrieb der einzige deutsche Dichter aus der Gottschedzeit<br />
einen solchen Ausbruch der Verzweiflung nieder, Johann Christian Günther. In den<br />
Strophen, die mit den Worten „Geduld, Gelassenheit" beginnen, verflucht er sein Dasein,<br />
nennt er den Gott, "der helfen will und kann" (und auch die Dreieinigkeit) ein „blindes Fabelwerk";<br />
mit naturalistischem, rohestem Zynismus (fast noch stärker als Swinburne) wünscht