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Band 4 - m-presse

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288 Viertes Buch. Achter Abschnitt<br />

Religion wird nicht als eine Tatsache aufgefaßt, sondern als eine Entwicklung,<br />

aber diese Entwicklung soll beileibe nicht über das Christentum<br />

herausgehen.<br />

Dabei weiß Eucken ganz gut, was er seiner Stellung als der eines<br />

Wissenschaftlers schuldig ist; er kritisiert tapfer darauf los, er kritisiert drei<br />

Viertel des geschichtlichen Christentums weg, nur an das beste Viertel,<br />

an den fettesten Braten, an das Pfaffenstück, traut er sich nicht heran. Der<br />

Katholizismus sei mit der neueren Denkweise unvereinbar, habe zwar<br />

das Verlangen der Menschen nach Lebenseinheit befriedigt, sei aber schließlich<br />

doch nicht nach dem Geschmacke Euckens, der eben auf dem Standpunkte<br />

des Protestantismus steht, seines sehr fortgeschrittenen Protestantismus.<br />

Wir vernehmen vornehme Wörter aus der Aufklärungszeit:<br />

Deismus, Pantheismus, Immanenz. Der Protestantismus wäre also<br />

gar nicht ungeeignet, die neue, Euckensche, Kulturreligion aufzusetzen und<br />

zu paragraphieren, wenn nur die protestantischen Theologen untereinander<br />

einig wären. Weil sie aber eben uneinig sind, muß die Hexe dran, muß am<br />

Ende Eucken selbst die Tracht eines Religionsstifters anlegen. Er stellt die<br />

neuen Tafeln auf, und sofort melden sich wieder die Vorzeichen der Seekrankheit.<br />

Wir vernehmen, daß nicht nur der Materialismus, sondern auch der<br />

edle Lebensgenuß das Innenleben zurückgetrieben habe; Eucken gebraucht<br />

da das wirklich veraltete Schimpfwort Epikureismus. Die neue Lehre dürfe<br />

nicht einfach aus der Vergangenheit entlehnt werden; einfach nicht, aber<br />

verwickelt aus dem Christentum, das "für die Emporhebung der Menschheit<br />

schlechterdings unentbehrlich ist". Solche Beteuerungen wie „schlechterdings"<br />

und "schlechthin" ersetzen bei neueren Propheten vollgültig die<br />

unmittelbaren Eingebungen Gottes. Noch einige Sätze, damit der Leser die<br />

Erinnerung an Seekrankheit nicht für eine übertriebene Darstellung meines<br />

Eindrucks halte. "Die Religion hat ihre Hauptstärke in der Würdigung und<br />

Überwindung der Hemmungen und Widerstände . . . Darin besteht ihre<br />

eigentümliche Art und Größe, daß sie erst nach energischer Verneinung zu<br />

einer Bejahung vordringt, und daß sie auch in der Bejahung jene gegenwärtig<br />

hält. Die Religion bringt zur Geltung, daß unser Leben große Verwicklungen<br />

aber auch große Überwindungen enthält, und indem sie beides<br />

in enge Beziehung setzt, gibt sie jenem einen Kontrastcharakter und erzeugt<br />

sie eine fortlaufende Bewegung, aus der immer neue Kräfte und Wendungen<br />

hervorgehen können." Der Leser hat doch genau folgen können? Oder<br />

soll ich die letzten Wendungen und Windungen noch einmal hersetzen,<br />

damit er, der zur Geltung gebrachte Leser, die Hemmung und Überwindung<br />

der theologischen Seekrankheit durch die Widerstände der Verwicklungen<br />

eines <strong>Band</strong>wurms in Erfahrung zu bringen sich nicht entbrechen könne?<br />

Eucken 289<br />

Verzeihung, aber auch ich konnte nicht anders. Euckens Satzverrenkungen,<br />

mit denen er aus tiefster Religiosität aufhört, ein Kirchenfeind zu sein<br />

und neuen Wein in alte Schläuche pumpt, nicht gießt, reizen zur Nachahmung.<br />

Er schreibt keinen Katechismus für die allerneueste protestantische<br />

Religion; die wird, wenn die Zeit gekommen ist, die ihr entsprechenden<br />

Formen von selber finden. Doch daß die neue Kirche sich von allem Alten<br />

nicht allzu weit unterscheiden wird, das erhellt aus der einzigen Behauptung<br />

(S. 233) : daß jede Kirche, die nicht zu einem Diskussionsklub über religiöse<br />

und philosophische Themata sinken will, von ihren Lehrern gewisse Grundüberzeugungen<br />

verlangen muß. Von einem Religionserneuerer z. B.<br />

die Überzeugung (wenn Überzeugungen überhaupt verlangt werden<br />

können): man müsse den Pelz waschen, gründlich waschen, rücksichtslos<br />

waschen, ohne ihn naß zu machen.*)<br />

Wir werden der Salbung Rudolf Euckens vielleicht wieder begegnen, Zeitalter<br />

wenn uns die religiöse Reaktion beschäftigen wird, die man in unseren<br />

Tagen die wiedererwachte Sehnsucht nach dem Ideal nennt. Wir nähern<br />

uns ja dieser Gegenwart schon in unserer Darstellung, da das Geschlecht,<br />

das die Dichtungen Gottfried Kellers endlich schätzen lernte, bereits dem<br />

Zeitalter Bismarcks angehört. Wir werden uns daran gewöhnen müssen,<br />

von einem Zeitalter Bismarcks zu reden, wie eine doppelt so lange Periode<br />

heute allgemein das Zeitalter Friedrichs des Großen heißt. Bismarck<br />

leitete die Geschäfte nur im Namen seines Königs und war auch darin<br />

Realist, daß er öffentlich niemals die Ehrfurcht vor seinem Herrn vergaß;<br />

*) Dem protestantischen Predigtersatz von Eucken genau zu vergleichen ist die Kinderlehre,<br />

die uns Hermann Cohen (geb. 1842, gest. 1918) in seinen "ethischen" Schriften geschenkt<br />

hat, zuletzt in dem ganz beschränkten Buche "Die Religion der Vernunft aus den Quellen<br />

des Judentums." Einst hatte er, freilich nur im Sinne Kants, den Satz aufgestellt: das Ziel<br />

aller Religion ist ihre Auflösung in Ethik. Dann kamen einige verlegene Verbeugungen vor<br />

dem Christentum hinzu, einige Anleihen bei der Mitleidslehre Schopenhauers, und schließlich<br />

fand der "Philosoph" just bei den jüdischen Propheten den Gedanken, daß humaner Sozialismus<br />

den Individualismus überwinden müsse. Kein Wunder, daß Cohen so einen Weg fand,<br />

nicht nur den Monotheismus, sondern auch die Offenbarung und die Schöpfung wieder<br />

für Begriffe der Vernunft zu erklären. Ich dürfte die pastorale Sonntagspredigt Euckens<br />

nicht ablehnen, wenn ich mir die gleichwertige Samstagpredigt Cohens gefallen ließe. Es<br />

tut mir aufrichtig leid, daß mein zielweisender Weg sich nun schon zum dritten Male (vgl. II.,<br />

S. 101) mit dem ein System suchenden Wege des bedeutendsten Neukantianers kreuzt, des<br />

vielgerühmten Begründers der Marburger Schule. Ich habe nicht die Aufgabe, den Ruhm<br />

des Mannes anzutasten, der die Parole "Zurück zu Kant!" mit beachtenswertem Scharfsinn<br />

in den Angstruf „Zurück zu Hegel!" wandelte. Als Systematiker (wenn man anders<br />

Systeme für belehrend hält) ist Hermann Cohen eine wichtige Erscheinung; was darüber<br />

zu sagen war, hat Paul Natorp in seinem Vortrage "Hermann Cohens philosophische<br />

Leistung unter dem Gesichtspunkte des Systems" (1918) gut und eindringlich gesagt. Ich<br />

aber halte mich an den psychologistischen Kant, der von den Engländern herkam, und habe<br />

es hier übrigens allein mit der Geschichte der Geistesbefreiung zu tun, die kaum jemals durch<br />

ein System gefordert worden ist, wenn nicht etwa durch das Système de la Nature.

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