Band 4 - m-presse
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400 Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />
möchte ich absehen. Der große Haufe der Halben besteht aus Zeitgenossen,<br />
die nach ihrer Meinung und auch nach der öffentlichen Meinung<br />
würdigere Vorstellungen von ihrem Gotte haben, eben Menschenvorstellungen.<br />
Schule und Haus hat ihnen die Gewohnheit beigebracht,<br />
von den Eigenschaften Gottes wie von bekannten Dingen zu reden;<br />
von Allweisheit, Allgüte und Allmacht, was, weil alle diese Scheinbegriffe<br />
den Scheinbegriff des Absoluten oder des Unendlichen mitenthalten, nur<br />
ungefähr besagen will, daß dieser Gott sehr weise, sehr gütig und sehr<br />
mächtig ist. Und die Haare auf dem Kopfe des Halben gezählt hat. Um<br />
die theologischen Schwierigkeiten der Begriffe Vorsehung und Vorherbestimmung,<br />
Naturnotwendigkeit und Willensfreiheit bekümmert sich der<br />
Halbe nicht; und löst die Widersprüche nicht, auch wenn er zufällig nebenbei<br />
ein Theologe ist. Wenn die Vorsehung sich nur seiner werten Person<br />
annimmt, besserenfalls seiner Familie, bestenfalls seines Landes. Und<br />
da kommt der entsetzliche Krieg mit Drangsal für seine Person, für seine<br />
Familie, für sein Land. Wer ein richtiger Halber ist, der wird auch durch<br />
das grauenhafte Miterleben nicht zum Nachdenken gebracht, wohl aber<br />
zu der Empfindung eines erlittenen Unrechts, zur Empörung. Man hat<br />
ihm von Gott als von einem sehr weisen, sehr gütigen, sehr mächtigen<br />
Könige gesprochen; was geschehen ist, das reimt sich mit diesem Bilde<br />
nicht zusammen, und der Glaube an die Eigenschaften Gottes gerät ins<br />
Wanken. Beileibe nicht der Glaube an Gott selbst, Gott bewahre. Der<br />
Halbe ist kein Sprachkritiker, weiß also nicht, daß die adjektivische Welt<br />
nur eine andere Anschauungsform ist, nicht aber eine zweite Welt neben<br />
der substantivischen; er weiß nicht, daß es das Wesen "Gott" nicht gibt<br />
außer und hinter den wesentlichen Eigenschaften, wie es einen Apfel nicht<br />
gibt, der nicht seine Schwere, seine Form, seine Farbe, seinen Geschmack<br />
und seinen Geruch hätte. Der Halbe weiß gar nicht, daß er einen Gott,<br />
den er anklagt, nicht mehr besitzt. Er ist zu modern und zu gebildet, um<br />
den Fetisch zu prügeln, um den Götzen gegen einen stärkeren umzutauschen;<br />
aber er ist unzufrieden mit dem Gotte, dessen Eigenschaften die Probe<br />
nicht bestanden haben, er vertraut ihm nicht mehr, er traut ihm nicht mehr.<br />
So wird der große Haufe der Halben, das ist die große Mehrheit der christlichen<br />
Welt, nach dem Kriege nicht zu den Gottesleugnern übergehen, aber<br />
doch die Neigung haben, an den Versprechungen der Kirchen zu zweifeln.<br />
Sein Glaube war ja nicht nützlich gewesen. (Geschrieben 1917.)<br />
Ich möchte weitere Wahrsagerei vermeiden. Die Religion ist in den<br />
stürmischen Tagen dieses Krieges offiziell und offiziös nicht mehr und nicht<br />
weniger bemüht worden, als bei Amtshandlungen des Friedens; den Beweggründen<br />
der kämpfenden Menschen und Völker sind die Religionen<br />
Theosophen 401<br />
in diesem letzten Kriege ferner geblieben als in irgendeinem Kriege vorher.<br />
An keiner Stelle kann ein Glaubenswort Einfluß gehabt haben. (Was den<br />
Islam drüben in Asien angeht, kümmert uns hier nicht, wo wir es ausdrücklich<br />
nur mit der Entwicklung des Abendlandes zu tun haben.) Ob aber<br />
diese nicht genug zu beachtende Befreiung von religiösen Beweggründen<br />
zu einer allgemeinen Loslösung der künftigen Kultur von den Formen<br />
der Religion führen wird oder nicht, das hängt doch wieder von einer Entwicklung<br />
ab, die in der Macht des großen Haufens der Halben liegt, den<br />
man dann feierlicher den Volkswillen nennt. Nur wenn dieser von Ganzen<br />
geleitete Volkswille überall die Grundsätze der Regierung umgestalten<br />
und die Schule der kirchlichen Herrschaft entziehen würde, dann könnte nach<br />
einem Menschenalter ein Geschlecht aufwachsen, das an die Worte von den<br />
Eigenschaften Gottes nicht mehr gewohnt wäre. Dann würde vielleicht<br />
der große Haufe der Halben, wieder ohne zu denken, so ungefähr unkirchlich<br />
oder deistisch werden und hätte, auch wenn es in Zukunft wieder zu einem<br />
solchen Kriege kommen könnte, keine Ursache mehr, den Gott anzuklagen.<br />
Ganz unberechtigt war freilich die Sorge der Pazifisten und Freidenker Theosophen<br />
nicht, die Todesnot des Weltkrieges könnte ein Wiederaufleben mittelalterlichen<br />
Volksaberglaubens auslösen; nur daß die Epidemie ganz anderswo<br />
ausbrach, als die Kirchendiener gehofft und ihre Gegner gefürchtet<br />
hatten. Der vierte Stand wollte sich, nach dem ersten Schrecken, auch von<br />
der Todesangst nicht mehr in die Kirche zurücktreiben lassen; Zweifel und<br />
Unglaube waren doch zu stark geworden. Aber auch der dritte Stand,<br />
das halbgebildete Bürgertum, griff lieber nach einem jüngeren Aberglauben,<br />
als nach einem der ältesten. Die greifbare Wirkung der Kriegsnot war<br />
zumeist ein Aufschwung der Schwarmgeisterei, die man ja auch eine Form<br />
des religiösen Bedürfnisses nennen darf. Die Zahl der Spiritisten und der<br />
Theosophen mehrte sich in England und in Deutschland. Der Wahn schöpfte<br />
neue Kraft aus der Verzweiflung. Unbekümmert darum, daß Geschichte<br />
keine Wissenschaft ist, standen Propheten auf, die die Zukunft vorausberechneten,<br />
scheinwissenschaftlich und geistreich wie Spengler in seinem<br />
„Untergang des Abendlandes", dumm und frech wie seine pöbelhaften<br />
Nachahmer. Natürlich wurde die Stimmung auch von gemeinen Hochstaplern<br />
benützt: ein Anstreicher trat als Heiland auf, als der "Jesus von<br />
Düsseldorf", und soll einen Jahresverdienst von mehreren Millionen gebucht<br />
haben; ein anderer Weltheiland, ein Weinreisender, machte sich<br />
weniger aus Gold als aus Frauenliebe und wurde schließlich durchgeprügelt;<br />
wieder ein "Christus II." machte d i e Gegend von F r a n k f u r t a. M. unsicher<br />
und wurde aus Deutschland erst als steinreicher Mann ausgewiesen. In<br />
diese Gruppe von Schwindlern gehört vielleicht auch der jüdische Mystiker