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Band 4 - m-presse

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408 Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />

Gottes, keiner Götter mehr bedürfen (S. 466). Nur daß Ziegler — halb<br />

träumend und von seinen eigenen Worten wie berauscht — dem Mythos<br />

der Religion eine neue, eine künftige Bedeutung geben will. Und daß ich,<br />

ganz und gar nicht Dichter, ganz und gar nüchtern, wo es sich um klares<br />

Denken handelt, selbst da noch auf der Erde stehen bleibe, mit beiden<br />

Füßen, wo ich bei der Erörterung der letzten Dinge lieber den Mystikern<br />

oder den Entsagenden zugerechnet werden will als den Mechanisten, die<br />

mit vier Füßen auf der geduldigen Erde stehen. Und zu diesen letzten<br />

Dingen wende ich mich jetzt und stelle die beiden Fragen, Kind und<br />

Lehrer zugleich.<br />

Was verstehen ehrenwerte Dichter und Denker unserer Tage darunter,<br />

wenn sie mit D. F. Strauß sagen: wir sind keine Christen mehr, aber wir<br />

haben noch Religion? Jetzt besser so ausgedrückt, weil ich doch nicht wiederholen<br />

will, was ich bei jedem Anlaß vorgetragen habe: ist Religion ein<br />

wohlbekanntes, jedem Menschen natürliches Gefühl, oder ist Religion nur<br />

ein abendländischer Begriff, auf einige westliche Sprachen beschränkt,<br />

ohne eine entsprechende Vorstellung in den Sprachen der sogenannten<br />

Wilden und der morgenländischen Kulturvölker? Ich werde mich in der<br />

Antwort mit einem oberflächlichen Umriß begnügen müssen; ich darf am<br />

Schlusse nicht mit einem neuen Buche beginnen.<br />

Meine zweite Frage ist mehr eine persönliche Angelegenheit zwischen<br />

mir und meinem Leser. Ich habe mit dem Versprechen angefangen, das<br />

aufbauende letzte Wort des niederreißenden Buches werde das Bekenntnis<br />

zu einer gottlosen Mystik sein. Und wahrlich, ich habe ein immerhin positiv<br />

klingendes letztes Wort nicht aus Vorsicht gewählt, nicht um mit den<br />

Wölfen im Schafspelze zu heulen, nicht weil ich Angst davor habe, zu den<br />

rein verneinenden Geistern gerechnet zu werden. Ich hätte mich sonst<br />

nicht zur Gottlosigkeit bekannt. Und ich hätte sonst anstatt "Mystik" den<br />

allgemein beliebten Ausdruck "Religion" gebraucht. Ich habe also endlich<br />

noch zu erklären, so gut ich es vermag, was ich eigentlich unter dem Bekenntnisse<br />

zu einer gottlosen Mystik verstehe. Genauer oder persönlicher:<br />

wie ich selbst mein Verhältnis zur älteren Mystik verstehe und welchen<br />

Bedeutungswandel ich — bewußt oder unbewußt — an dem Begriffe<br />

„Mystik" vollzogen habe.<br />

Religion Zunächst also einige flüchtige Bemerkungen über das Verhältnis des<br />

Religionsbegriffs zu dem uralten Streite um den Gottesbegriff. In den<br />

gelehrten Büchern, die sich besonders seit dem Ende des 17. Jahrhunderts<br />

mit der Geschichte und zugleich immer — wohlgemerkt — mit der Widerlegung<br />

des Atheismus beschäftigt haben, findet man fast regelmäßig eine<br />

hübsch geordnete, logische Einteilung der Atheisten: nach dem Grade ihres<br />

Klassifikation der Atheisten 409<br />

Unglaubens, nach ihrem begreiflich verruchten oder erstaunlich gesitteten<br />

Lebenswandel, nach ihren Gründen, nach ihrer Gefährlichkeit. Ich will<br />

keine neue Klassifikation bieten, möchte aber doch auf manche Unwahrheit<br />

oder Unredlichkeit in dem hinweisen, was von diesen alten Klassifikationen<br />

in dem Geschwätze neuester Religionsphilosophie, auch der liberalen oder<br />

protestantenvereinlichen, übrig geblieben ist. Ich denke dabei zunächst<br />

nicht an die Tatsache, der wir auf Schritt und Tritt begegnet sind,<br />

daß nämlich die freien Geister durch viele Jahrhunderte bis vor wenigen<br />

Jahrzehnten in den Gegenständen ihres Zweifels eingeschränkt waren,<br />

ebenso innerlich durch die ererbte Sprache und die ererbten Vorstellungen,<br />

wie äußerlich durch die Bedrohung des freien Denkens; viele Deisten und<br />

Aufklärer, vorher schon manche Selbstdenker, mußten sich damit begnügen,<br />

einzelne Eigenschaften des Gottesbegriffs zu kritisieren, während ihre<br />

Zweifel schon unsicher das Dasein Gottes betrafen; dieser Unterschied geht<br />

aber doch nur auf die Äußerungen der Befreiung, nur selten auf diese selbst.<br />

Ich denke an die mit offenbarer Beschleunigung wachsende Zahl der Gottlosen<br />

in der Gegenwart, die wirklich nicht alle von einer Art sind, die sich<br />

aber sicherlich nicht nach logischen Distinktionen ordnen lassen. Ich komme<br />

scheinbar den Frommen entgegen, wenn ich zugebe, daß heutzutage in<br />

sehr weiten Kreisen der Atheismus als gedankenlose Mode getragen wird;<br />

aber in diesem Sinne wurde früher auch der Glaube nur als eine Mode<br />

getragen und ertragen. Er gehörte etwa tausend Jahre lang zu der gesetzlich<br />

geschützten Kleiderordnung.<br />

Was besonders berichtigt werden muß, das ist die jetzt noch und jetzt<br />

mit moderner Wissenschaftlichkeit wiederkehrende Behauptung: Religion<br />

sei allgemein verbreitet, Religionslosigkeit oder Atheismus sei eine Ausnahme,<br />

sei gegen die Natur des Menschen. Der uralte Beweis für das<br />

Dasein Gottes aus dem consensus gentium. Der Historismus hat mit<br />

ungeheuerer Belesenheit die Religion auch bei den „wilden" Völkern nachgewiesen.<br />

Nun wird da aber mit der Religion in bedenklicher Weise Schindluder<br />

getrieben. Wo immer bei den Australnegern oder sonst bei einfachen<br />

Menschen Gespensterfurcht, Zauberei, irgendein sogenannter Aberglaube<br />

oder auch nur Rücksicht auf die verstorbenen Ahnen entdeckt worden ist, da<br />

redet man vertrauensvoll von Religion. Von zwei Schlüssen aus dieser<br />

Begriffsanwendung ist aber nur einer möglich: entweder macht Gespensterfurcht<br />

usw. auch das Wesen der "sublimierten" abendländischen Religion<br />

aus, oder die Vorstellungen der Australneger fallen nicht unter das, was<br />

man im Abendlande Religion nennt. Ich will gar nicht den tragikomischen<br />

Umstand benützen, daß die Missionare, denen wir die meisten Notizen über<br />

die „Wilden" verdanken, oft Jahre brauchten, bevor sie unter dem Schutte

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