29.10.2013 Aufrufe

Band 4 - m-presse

Band 4 - m-presse

Band 4 - m-presse

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

172<br />

Viertes Buch. Fünfter Abschnitt<br />

als eine Wiederholung dieser orientalischen Lehren. Ähnlich wie Lessing,<br />

nur viel deutlicher, nimmt er die Orthodoxen, obgleich sie vielfach Pfaffen<br />

und Heuchler sind, gegen die Rationalisten in Schutz; der Supranaturalismus<br />

täusche zwar meistens absichtlich, habe aber doch allegorische Wahrheit;<br />

der Rationalismus täusche nur sich selbst, gehe ganz ehrlich zu Werke, habe<br />

aber gar keine Wahrheit. Den tapferen Strauß scheint er nicht zu den<br />

Rationalisten zu rechnen, da er dessen mythisches Prinzip für richtig erklärt.<br />

Glauben und Wissen vertrage sich nicht im selben Kopfe; sie sind darin<br />

wie Wolf und Schaf in einem Käfig, und zwar ist das Wissen der Wolf,<br />

der den Nachbar aufzufressen droht . . . "In früheren Jahrhunderten war<br />

die Religion ein Wald, hinter welchem Heere halten und sich decken konnten.<br />

Aber nach so vielen Fällungen ist sie nur noch ein Buschwerk, hinter welchem<br />

gelegentlich Gauner sich verstecken ... Im Ganzen also geht, von den<br />

Wissenschaften fortwährend unterminiert, das Christentum seinem Ende<br />

allmählich entgegen." Dagegen spreche nur der Umstand, daß nur solche<br />

Religionen untergehen, die keine Urkunden haben, wie die Religionen der<br />

Griechen, Römer, Gallier und Germanen; hingegen seien die Religionen<br />

des verachteten Judenvölkchens, des Zendvolkes (bei den Gebern), der<br />

Brahmanen und der Buddhisten durch ihre Urkunden erhalten worden.<br />

Und wieder bezeugt Schopenhauer den indischen Religionen seine Ehrfurcht,<br />

während er bei der historischen Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit,<br />

das Christentum könnte allmählich vergehen, kalt vorüberschreitet.<br />

Dialog über Seinen ganzen Atheismus und zugleich seine praktische Würdigung<br />

Religion der Religion hat Schopenhauer niedergelegt in dem schon erwähnten<br />

"Dialoge" über Religion. Hier ist von einer schlauen Rollenverteilung,<br />

hinter der der Verfasser sich verbirgt, nicht mehr die Rede; die Gedanken<br />

des Atheisten sprechen Schopenhauers Meinung aus, aber auch die Einwürfe<br />

des Gegners stammen aus dem Verstande Schopenhauers. Das ist<br />

schon durch die Namen der beiden Unterredner angedeutet. Der Atheist<br />

heißt wie bei Platner Philalethes, der Wahrheitsfreund; der Gegner aber<br />

heißt und ist nicht mehr der Gottesfreund Theophilos, sondern (nach dem<br />

Muster von Mephistopheles erfunden) Demopheles, der dem Volke nützen<br />

will. Schopenhauer war kein Dichter; er war sich eines Aktes der Selbstverleugnung<br />

bewußt, als er einige Verse in seine "Parerga" aufnahm;<br />

"weil man nicht Dichter und Philosoph zugleich sein kann". Sein Dialog<br />

hat nicht ganz die Sprachkraft seiner Streitschriften, obgleich es sich erst<br />

recht um einen Streit handelt; der Bau des Gesprächs leidet unter zahlreichen<br />

Wiederholungen; aber oft genug hört man doch den grimmigen<br />

Ton heraus, mit dem der junge Schopenhauer seine Bekannten in Dresden<br />

entsetzte oder vergnügte. Dieser grimmige Schopenhauerton ist beiden<br />

Schopenhauer 173<br />

Teilnehmern des Gespräches gleich eigen und stört nicht einmal, weil ein<br />

rechter Gegensatz des Glaubens zwischen beiden gar nicht besteht; Philalethes<br />

will die Religion um der Wahrheit willen vernichten, Demopheles<br />

behauptet ihre Wahrheit nicht, will sie nur dem Volke erhalten wissen,<br />

aus Menschenverachtung.<br />

Das Pro und Kontra dieser Auseinandersetzung findet sich schon in<br />

einer Niederschrift des Manuskriptes "Adversaria", das 1828 zu Berlin<br />

begonnen wurde; das Gespräch selbst scheint, nach einem Hinweis auf das<br />

Alter der Königin Viktoria, zu Anfang der vierziger Jahre abgefaßt worden<br />

zu sein. Da wir uns hier um die künstlerischen Vorzüge und Schwächen<br />

des Dialogs gar nicht bekümmern, dürfen wir das Pro und das Kontra<br />

ohne Rücksicht auf alle lebhaften Zwischenbemerkungen wie zwei selbständige<br />

Gedankenfolgen nebeneinander stellen.<br />

Demopheles ist also ein Schopenhauer ohne Wahrheitsdrang, der<br />

aber an der Ethik der Willensphilosophie festhält, an der hohen Bedeutung<br />

des Lebens. Es sei beschränkt und ungerecht, eine Religion zu verspotten.<br />

Wie es eine Volkspoesie gebe und eine Volksweisheit, so müsse es auch<br />

eine Volksmetaphysik geben. (Philalethes könnte antworten: Volkspoesie<br />

ist die beste Poesie, Volksmetaphysik eine sehr schlechte Metaphysik.) Einen<br />

sehr ernsten Sinn habe der Satz: primum vivere, deinde philosophari;<br />

es komme darauf an, die rohen Gemüter der Menge zu bändigen; der<br />

praktische Zweck gehe dem theoretischen vor. Auch widerspreche die<br />

Religion nicht der Wahrheit, sie brauche nur ein Gefäß der Wahrheit, wie<br />

sich auch das Wasser ohne Gefäß nicht forttragen lasse. Religion sei die<br />

allegorisch und mythisch ausgesprochene Wahrheit, dürfe aber ihre allegorische<br />

Natur nicht geradezu bekennen; sie nenne ihre Lehren Mysterien,<br />

d. h. religiöse Allegorien. Das metaphysische Bedürfnis der Menschen<br />

verlange unbedingt Befriedigung. Eine auf Autorität gestützte Religion<br />

wende sich an den Willen, also an Furcht und Hoffnung der armen Sterblichen,<br />

unterstütze durch Furcht und Hoffnung das moralische Bewußtsein<br />

und gewähre Trost im Leben und im Tode. Höchstens der zehnte<br />

Teil der Menschheit könne eine Überzeugung aus Gründen fassen. "Du<br />

hast von der elenden Kapazität der Menge keinen ausreichenden Begriff."<br />

Die einzig wahre Philosophie sei noch g a r nicht gefunden; wäre sie<br />

es aber auch, so würde sie für den brutalen großen Haufen in seiner<br />

ganzen moralischen und intellektuellen Niedrigkeit gar nicht passen. In<br />

allen Religionen sei das Metaphysische falsch, das Moralische wahr; in<br />

moralischer Hinsicht seien sie das alleinige Lenkungs-, Bändigungs- und<br />

Besänftigungsmittel der vernunftbegabten Tiere, die zugleich mit den<br />

Affen und den Tigern verwandt sind. Daß die Religion die Wahrheit

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!