Band 4 - m-presse
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Viertes Buch. Fünfter Abschnitt<br />
als eine Wiederholung dieser orientalischen Lehren. Ähnlich wie Lessing,<br />
nur viel deutlicher, nimmt er die Orthodoxen, obgleich sie vielfach Pfaffen<br />
und Heuchler sind, gegen die Rationalisten in Schutz; der Supranaturalismus<br />
täusche zwar meistens absichtlich, habe aber doch allegorische Wahrheit;<br />
der Rationalismus täusche nur sich selbst, gehe ganz ehrlich zu Werke, habe<br />
aber gar keine Wahrheit. Den tapferen Strauß scheint er nicht zu den<br />
Rationalisten zu rechnen, da er dessen mythisches Prinzip für richtig erklärt.<br />
Glauben und Wissen vertrage sich nicht im selben Kopfe; sie sind darin<br />
wie Wolf und Schaf in einem Käfig, und zwar ist das Wissen der Wolf,<br />
der den Nachbar aufzufressen droht . . . "In früheren Jahrhunderten war<br />
die Religion ein Wald, hinter welchem Heere halten und sich decken konnten.<br />
Aber nach so vielen Fällungen ist sie nur noch ein Buschwerk, hinter welchem<br />
gelegentlich Gauner sich verstecken ... Im Ganzen also geht, von den<br />
Wissenschaften fortwährend unterminiert, das Christentum seinem Ende<br />
allmählich entgegen." Dagegen spreche nur der Umstand, daß nur solche<br />
Religionen untergehen, die keine Urkunden haben, wie die Religionen der<br />
Griechen, Römer, Gallier und Germanen; hingegen seien die Religionen<br />
des verachteten Judenvölkchens, des Zendvolkes (bei den Gebern), der<br />
Brahmanen und der Buddhisten durch ihre Urkunden erhalten worden.<br />
Und wieder bezeugt Schopenhauer den indischen Religionen seine Ehrfurcht,<br />
während er bei der historischen Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit,<br />
das Christentum könnte allmählich vergehen, kalt vorüberschreitet.<br />
Dialog über Seinen ganzen Atheismus und zugleich seine praktische Würdigung<br />
Religion der Religion hat Schopenhauer niedergelegt in dem schon erwähnten<br />
"Dialoge" über Religion. Hier ist von einer schlauen Rollenverteilung,<br />
hinter der der Verfasser sich verbirgt, nicht mehr die Rede; die Gedanken<br />
des Atheisten sprechen Schopenhauers Meinung aus, aber auch die Einwürfe<br />
des Gegners stammen aus dem Verstande Schopenhauers. Das ist<br />
schon durch die Namen der beiden Unterredner angedeutet. Der Atheist<br />
heißt wie bei Platner Philalethes, der Wahrheitsfreund; der Gegner aber<br />
heißt und ist nicht mehr der Gottesfreund Theophilos, sondern (nach dem<br />
Muster von Mephistopheles erfunden) Demopheles, der dem Volke nützen<br />
will. Schopenhauer war kein Dichter; er war sich eines Aktes der Selbstverleugnung<br />
bewußt, als er einige Verse in seine "Parerga" aufnahm;<br />
"weil man nicht Dichter und Philosoph zugleich sein kann". Sein Dialog<br />
hat nicht ganz die Sprachkraft seiner Streitschriften, obgleich es sich erst<br />
recht um einen Streit handelt; der Bau des Gesprächs leidet unter zahlreichen<br />
Wiederholungen; aber oft genug hört man doch den grimmigen<br />
Ton heraus, mit dem der junge Schopenhauer seine Bekannten in Dresden<br />
entsetzte oder vergnügte. Dieser grimmige Schopenhauerton ist beiden<br />
Schopenhauer 173<br />
Teilnehmern des Gespräches gleich eigen und stört nicht einmal, weil ein<br />
rechter Gegensatz des Glaubens zwischen beiden gar nicht besteht; Philalethes<br />
will die Religion um der Wahrheit willen vernichten, Demopheles<br />
behauptet ihre Wahrheit nicht, will sie nur dem Volke erhalten wissen,<br />
aus Menschenverachtung.<br />
Das Pro und Kontra dieser Auseinandersetzung findet sich schon in<br />
einer Niederschrift des Manuskriptes "Adversaria", das 1828 zu Berlin<br />
begonnen wurde; das Gespräch selbst scheint, nach einem Hinweis auf das<br />
Alter der Königin Viktoria, zu Anfang der vierziger Jahre abgefaßt worden<br />
zu sein. Da wir uns hier um die künstlerischen Vorzüge und Schwächen<br />
des Dialogs gar nicht bekümmern, dürfen wir das Pro und das Kontra<br />
ohne Rücksicht auf alle lebhaften Zwischenbemerkungen wie zwei selbständige<br />
Gedankenfolgen nebeneinander stellen.<br />
Demopheles ist also ein Schopenhauer ohne Wahrheitsdrang, der<br />
aber an der Ethik der Willensphilosophie festhält, an der hohen Bedeutung<br />
des Lebens. Es sei beschränkt und ungerecht, eine Religion zu verspotten.<br />
Wie es eine Volkspoesie gebe und eine Volksweisheit, so müsse es auch<br />
eine Volksmetaphysik geben. (Philalethes könnte antworten: Volkspoesie<br />
ist die beste Poesie, Volksmetaphysik eine sehr schlechte Metaphysik.) Einen<br />
sehr ernsten Sinn habe der Satz: primum vivere, deinde philosophari;<br />
es komme darauf an, die rohen Gemüter der Menge zu bändigen; der<br />
praktische Zweck gehe dem theoretischen vor. Auch widerspreche die<br />
Religion nicht der Wahrheit, sie brauche nur ein Gefäß der Wahrheit, wie<br />
sich auch das Wasser ohne Gefäß nicht forttragen lasse. Religion sei die<br />
allegorisch und mythisch ausgesprochene Wahrheit, dürfe aber ihre allegorische<br />
Natur nicht geradezu bekennen; sie nenne ihre Lehren Mysterien,<br />
d. h. religiöse Allegorien. Das metaphysische Bedürfnis der Menschen<br />
verlange unbedingt Befriedigung. Eine auf Autorität gestützte Religion<br />
wende sich an den Willen, also an Furcht und Hoffnung der armen Sterblichen,<br />
unterstütze durch Furcht und Hoffnung das moralische Bewußtsein<br />
und gewähre Trost im Leben und im Tode. Höchstens der zehnte<br />
Teil der Menschheit könne eine Überzeugung aus Gründen fassen. "Du<br />
hast von der elenden Kapazität der Menge keinen ausreichenden Begriff."<br />
Die einzig wahre Philosophie sei noch g a r nicht gefunden; wäre sie<br />
es aber auch, so würde sie für den brutalen großen Haufen in seiner<br />
ganzen moralischen und intellektuellen Niedrigkeit gar nicht passen. In<br />
allen Religionen sei das Metaphysische falsch, das Moralische wahr; in<br />
moralischer Hinsicht seien sie das alleinige Lenkungs-, Bändigungs- und<br />
Besänftigungsmittel der vernunftbegabten Tiere, die zugleich mit den<br />
Affen und den Tigern verwandt sind. Daß die Religion die Wahrheit