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Band 4 - m-presse

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84 Drittes Buch. Vierzehnter Abschnitt<br />

Jetzt, wenige Jahre vor der Flucht nach Italien, geht ihm Spinozas<br />

Pantheismus auf und die Bedeutung des Begriffspaars „Gott oder die<br />

Natur"; mit den Beweisen für das Dasein Gottes weiß er längst nichts<br />

mehr anzufangen; ihm genügt es, Gott zu schauen, in der Natur. Es ist<br />

am Ende doch unwesentlich, daß er sich von dem Wortschalle "Gott"<br />

ebensowenig befreien kann wie sein Meister Spinoza selbst; steckt doch<br />

auch in der Formel "gottlose Mystik" immer noch der Gottesbegriff,<br />

wenn auch mit einem negativen Vorzeichen.<br />

Wir hätten von dem weisen Goethe nicht viel gelernt, wenn wir uns<br />

auf ihn wie auf ein unfehlbares Orakel berufen wollten; auf ihn hat man<br />

noch weniger zu schwören als auf irgendeinen anderen Lehrer, weil es<br />

ihm (von seiner Farbenlehre und anderen physikalischen Dingen etwa abgesehen)<br />

niemals um ein Belehren zu tun war, sondern bestenfalls um<br />

ein Bekennen, gewöhnlich um ein Aussprechen. Dazu kommt, daß der<br />

Dichter sich gar oft bei einem symbolischen Worte beruhigen konnte und<br />

durfte, wo das Denken zu fragen nicht aufhört.<br />

So konnte es kommen, daß hundert Jahre später selbst der geistige<br />

Mittelstand im nüchternen Gebrauche so transzendentaler Begriffe sicherer<br />

wurde als der weiseste Deutsche, ohne daß der Nachfahre sich etwas darauf<br />

einbilden dürfte. Nur ein einziges Beispiel. Berühmt sind die Verse und<br />

in ihrer poetischen Schönheit unangreifbar:<br />

„Wär' nicht das Auge sonnenhaft,<br />

Die Sonne könnt' es nie erblicken;<br />

Läg' nicht in uns des Gottes eigne Kraft,<br />

Wie könnt' uns Göttliches entzücken?"<br />

Die Vorstellung, daß in uns des Gottes eigne Kraft liege, entspricht<br />

ungefähr der primitiven Annahme, Gott habe den Menschen nach seinem<br />

Ebenbilde geschaffen. Auf Platon mindestens wiederum, direkt jedoch<br />

auf Plotinos, geht der schöne, unwissenschaftliche Gedanke zurück, daß das<br />

Auge, um die Sonne sehen zu können, sonnenähnlich sein müsse. Unsere<br />

Psychologie der Sinne hat mit all ihren physikalischen, biologischen und<br />

photochemischen Entdeckungen das Sehen letzten Endes doch nicht erklärt;<br />

die Ähnlichkeit oder Verwandtschaft zwischen den Bewegungen<br />

des hypothetischen Lichtäthers und den mikroskopischen Bewegungen in<br />

der Netzhaut des Auges wäre heute wie vor zweitausend Jahren eine unwissenschaftliche<br />

Zutat. Sodann findet sich in der griechischen Philosophie<br />

noch hinter Platon zurück eine der primitiven entgegengesetzte und seit<br />

Feuerbach fast banal gewordene Behauptung, daß nämlich der Mensch die<br />

Götter nach seinem Ebenbilde geschaffen habe. Ich schäme mich nun ein<br />

Gottlose Mystik Goethes 85<br />

wenig, um des Beispieles willen die wundervollen Verse Goethes durch<br />

eine der neuen Weltanschauung entsprechende gemeine Prosa zu ersetzen:<br />

"Alle Lichterscheinungen sind subjektiv und stammen aus der spezifischen<br />

Energie des Auges; hätten wir nicht die eigene Kraft in den Gottesbegriff<br />

hineingelegt, wir könnten bei dem Gottesbegriffe nichts empfinden."<br />

So könnten wir die herrlichsten Gedichte Goethes in prosaische Fäden<br />

aufdröseln, wären im Rechte und würden doch unsäglich verarmen.<br />

Die Überlegenheit des poetischen Spiels über den abstrakten Ausdruck<br />

zeigt sich noch schöner da, wo Goethe die Mythologie bemüht, einerlei ob<br />

er den treu bewahrten Gottesbegriff in der Einzahl oder in der Mehrzahl<br />

anwendet. Ich komme nicht darum herum, auch das Hohelied seines<br />

Atheismus zu erwähnen, den unvergänglichen Monolog des Prometheus,<br />

der ja übrigens auch dadurch ein historisches Dokument geworden ist, daß<br />

er das folgenreiche Gespräch zwischen Lessing und Jacobi über Spinoza<br />

erst anregte, nicht zu vergessen, daß der Monolog bei dieser Gelegenheit<br />

zum ersten Male gedruckt und dann feige und sinnlos durch das harmlose<br />

Gedicht "Edel sei der Mensch" ersetzt wurde.<br />

"Ich kenne nichts Ärmeres<br />

Unter der Sonn' als Euch, Götter!...<br />

Hast Du nicht Alles selbst vollendet,<br />

Heilig glühend Herz,<br />

Und glühtest, jung und gut,<br />

Betrogen, Rettungsdank<br />

Dem Schlafenden da droben?<br />

Ich Dich ehren? Wofür? . . .<br />

Hier sitz ich, forme Menschen<br />

Nach meinem Bilde,<br />

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,<br />

Zu leiden, zu weinen,<br />

Zu genießen und zu freuen sich,<br />

Und Dein nicht zu achten,<br />

Wie ich!"<br />

Dieser Aufschrei der Freiheit ist oft nachgeahmt worden, aber an<br />

einfacher Kraft und Schönheit niemals übertroffen, niemals erreicht.<br />

Und doch versteckt sich auch in diesem Wunder der Poesie der Widerspruch,<br />

der nicht zu tilgen ist, wenn ein gottloser Poet mit dem Gottesbegriffe<br />

spielt. Der Gott, dem Denker ein Nichts, bleibt dem Dichter gegenüber<br />

als ein Etwas stehen und wird von ihm angeredet als eine Person. Mit<br />

diesem dichterischen Bedürfnisse dürfte aber das lösende Wort gefunden

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