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Band 4 - m-presse

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326 Viertes Buch. Neunter Abschnitt<br />

Neunter Abschnitt<br />

Fremde Einflüsse — Der Norden und Osten — Nietzsche<br />

Die Umwandlung der Religion in Religionsgeschichte — und Harnack<br />

ist bis jetzt der letzte Vertreter dieser Richtung — vollzog sich durch<br />

die Junghegelianer; aber Hegel selbst, der die große Revolution in ihrer<br />

Bedeutung besser verstanden hatte als irgendein anderer ihrer Zeitgenossen,<br />

war inzwischen durch seine eigene Entwicklung und durch die Geschäftigkeit<br />

der Rechtshegelianer ein Werkzeug der Gegenrevolution geworden. Vor<br />

und noch lange nach seinem Tode. Das ist der Grund, weshalb ich in dieser<br />

Geschichte der Geistesbefreiung dem mächtigen Philosophen keinen besonderen<br />

Abschnitt widmen konnte, mich vielmehr mit gelegentlichen Hinweisen<br />

auf den Zusammenhang mit ihm begnügen mußte.<br />

Es wäre freilich deutsche Beschränktheit, alles auf Hegel zurückzuführen,<br />

was seit dem Beginne des 19. Jahrhunderts von überallher auf die nachrevolutionäre<br />

Welt, also auch auf Deutschland, einstürmte. Namentlich<br />

England wahrte, auch da, seine insulare Selbständigkeit, und was von dort<br />

auf den Kontinent herüberkam, stammte so wenig aus deutschen Universitäten,<br />

wie Hamlets Weltschmerz aus Heidelberg stammte. Als ich oben in<br />

einem der letzten Abschnitte (S. 140) auf den Einfluß von Lord Byron<br />

hinweisen mußte, habe ich geflissentlich des hohen Dichters kaum gedacht,<br />

der immer als Freund und Mitstrebender Byrons vorgestellt wird, der<br />

aber, womöglich noch mehr Gottsucher, Wahrheitsucher als Dichter, fast<br />

ohne jede unmittelbare Wirkung auf seine Landsleute blieb. Nur daß sein<br />

persönlicher Einfluß auf Byron nie genug beachtet worden ist. Der übermütige<br />

Ketzer Byron, der Lord aus sehr hohem Hause, wurde zwar um<br />

seiner Ketzereien willen in Bann und Acht getan, von seiner "Gesellschaft",<br />

aber er wurde in England von der Leserwelt dennoch verschlungen und<br />

Shelley heimlich bewundert. Der arme Percy Bysshe Shelley (geb. 1792, gest.<br />

1822), der so jung im Mittelmeer ertrank, noch nicht ganz 30 Jahre alt,<br />

konnte sich nicht dagegen wehren, daß er ein Opfer der englischen "respectability"<br />

wurde. Er war um seines Atheismus willen ausgestoßen aus<br />

England, wie er als Student aus Oxford ausgestoßen worden war, wegen<br />

seiner Schrift "Notwendigkeit des Atheismus".*) Der Ruf folgte ihm,<br />

*) Shelley war noch nicht neunzehn Jahre alt, als er dieses Flugblatt unter dem Titel<br />

"Necessity of Atheism" erscheinen ließ; ich weiß nicht, ob heute noch ein Abdruck dieser<br />

Jugendarbeit vorhanden ist, deren Gedanken mit den Tendenzen zweier unreifer Romane<br />

aus seiner Knabenzeit zusammenstimmen sollen; ich weiß nur, daß alle entsetzlichen Blasphemien<br />

des Schriftchens wiederzufinden sind in einer der pedantischen Anmerkungen zu<br />

der meistgelesenen Dichtung Shelleys, der "Queen Mab", in der Anmerkung zu den Worten<br />

Percy Bysshe Shelley 327<br />

als ob es ein untilgbarer Schimpf gewesen wäre, nach der Schweiz und<br />

nach Italien. Es wird erzählt: als er einmal, kurz vor seinem Tode, in Pisa<br />

auf der Post nach Briefen fragte, also seinen Namen nannte, fragte ein<br />

Engländer, ein Offizier. „Sind Sie der Atheist Shelley?" und streckte den<br />

kränklichen Dichter mit einem Faustschlage nieder. Das geschah 200 Jahre<br />

nach der Verbrennung Vaninis.<br />

Die heimliche Stimmung der Zeit von 1819 bis 1848, auch die der Philister,<br />

wird also als atheistischer Weltschmerz allgemein an die Erscheinung<br />

des lärmenden Lord Byron geknüpft; in England und in Frankreich hat<br />

er sogar seinen Namen für diese Bewegung herleihen müssen, man sprach<br />

da von „Byronisme"; ich müßte den Raum einer Abhandlung daran<br />

wenden, um nachzuweisen, daß die leidenschaftlichsten Dichter des Abendlandes<br />

doch noch tiefer von dem stillen Shelley beeinflußt waren, von dem<br />

schwer zugänglichen Nur-Narr—Nur-Dichter, der — wenn jemals einer —<br />

gar nicht Literat war, kein Gewerbe aus seinem Berufe machte, nicht an<br />

ein Publikum dachte. Und lange nicht so oft genannt wurde wie Byron.<br />

Heine und Lenau nannten Byron, wenn sie von der "Zerrissenheit" der<br />

Zeit redeten, aber sie waren noch tiefer durch Shelley aufgewühlt. „Zerrissenheit"<br />

war das deutsche Schlagwort für den Zustand der gottlosen<br />

Unzufriedenheit, den die große Revolution und dann der klägliche Ausgang<br />

der sogenannten Freiheitskriege und der Romantik zurückgelassen hatte.<br />

Nur ein äußeres Zeichen für die Macht dieses Schlagwortes ist es, daß<br />

ein sehr ungleichmäßiger Vielschreiber wie der Freiherr von Ungern-<br />

Sternberg eine seiner besseren Novellen (und dann sogar noch eine Fortsetzung)<br />

"Die Zerrissenen" (1832) nannte, wenn ein genialischer Possenschreiber<br />

wie Nestroy einem Stücke den Titel „Der Zerrissene" gab (1845).*)<br />

Alle diese Zerrissenen hatten nicht die alte Moral mehr, weil sie die alte<br />

Religion nicht mehr hatten. Der erste "Zerrissene" war Shelley.<br />

Ich könnte sehr weit ausholen und eine Verbindung herstellen zwischen<br />

Shelley und einem vielgenannten Drama des Jahres 1922, wenn ich hinwiese<br />

auf Shelleys Tragödie "Die Cenci" (1819), die (rein stofflich) so ganz<br />

des 7. Stücks: "There is no God." Ich werde noch darauf zurückkommen, daß eine deutsche<br />

Doktordissertation, von S. Bernthsen (1900), den Nachweis von Spinozismus in Shelleys<br />

Weltansicht zu führen gesucht h a t . Wir wollen lieber nicht um Worte streiten. Shelley, der<br />

Wahrheitsfanatiker, ist in dieser Anmerkung ein fast deutscher Pantheist, noch mehr Pantheist<br />

als Spinoza selbst. "Die Leugnung Gottes ist bloß in Beziehung auf eine schaffende<br />

Gottheit zu verstehen; die Hypothese eines das Weltall durchdringenden und gleich ihm<br />

ewigen Geistes bleibt unangetastet." Aber der Dichter nennt den Gottesbegriff doch eine<br />

Hypothese und bringt lange Zitate aus Holbachs "Système de la Nature".<br />

*) Wortgeschichtlich sehr merkwürdig, daß Nestroys Posse eine Bearbeitung eines französischen<br />

"homme blasé" war, was wohl ursprünglich so viel bedeutete wie: ausgebrannt,<br />

a u s g e t r o c k n e t .

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