Band 4 - m-presse
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388 Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />
ist, nicht dogmatisch. Er hat das schon vorher anerkannt und jetzt damit<br />
seine Loslösung vom Kirchenchristentum vollends vollzogen. "Religion<br />
ist eine besondere Art menschlicher Veranlagung und nur einem Teile von<br />
Menschen eigentümlich" (S. 94) ; das konnte nicht einfacher und schöner<br />
gesagt werden. Nicht jeder Mensch ist von Natur musikalisch, nicht jeder<br />
darf also gezwungen werden, auf Erden oder im Himmel Halleluja zu<br />
singen. Nicht jeder Mensch ist mathematisch veranlagt; es ist also ein Unfug,<br />
wenn der Staat die Tauglichkeit eines Menschen von seinen mathematischen<br />
Fähigkeiten abhängig macht. Göhre zieht die Schlußfolgerung nicht<br />
geradezu, aber jeder aufmerksame Leser wird sie ziehen: also ist der Gottglaube<br />
dem Menschen nicht angeboren, also kann man edel, hilfreich und gut<br />
sein, ohne die Anlage zur Religion, zum Gottglauben zu besitzen. Es war<br />
eine tiefe Einsicht in seine eigene Aufgabe, die Göhre einmal (S. 104)<br />
sagen ließ: "Auch treiben wir hier nicht Religionswissenschaft, sondern<br />
Religion." Nicht eine objektive, nur eine subjektive Leistung hatte er sich<br />
vorgenommen.<br />
Nun aber doch zu einer klaren, rückhaltlosen Aussprache über das, was<br />
mich, trotz aller Verehrung für seine starke und weise Persönlichkeit, von<br />
Göhre trennt: er ist mir nicht kritisch genug, nicht sprachkritisch. Ich weiß<br />
mich einig mit ihm in der Ablehnung des Materialismus oder Mechanismus,<br />
der mit seinen armseligen Naturgesetzen alle Rätsel der Natur zu lösen<br />
glaubt; bin vielleicht sogar noch skeptischer als er gegenüber den Tagesbegeisterungen<br />
für Darwin, Häckel, Zeppelin und Einstein. Ich weiß wie<br />
er von dem großen Unbekannten, dem X, das hinter allen mechanistischen<br />
Antworten als eine neue Frage steht. Hinter den Atomen des Demokritos<br />
so gut wie hinter den Ideen Platons, hinter der Gravitation Newtons<br />
so gut wie hinter den beiden Sätzen der mechanischen Wärmelehre. Nur<br />
mache ich Halt vor der Benennung dieses X, und nicht erst nachher, nachdem<br />
ich dieses X ganz willkürlich „Gott" genannt habe. Ich resigniere vor der<br />
Namengebung, ich bin in heiterer Tapferkeit ein Resignierter, ein Verstummer,<br />
ein "Entsagender" (im Sinne Goethes). Wenn Göhre gelernt<br />
hätte, was Kritik der Sprache ihn hätte lehren können, so wüßte er, daß<br />
jedes solche Wort umgeben ist von den Fransen seiner Wortgeschichte, daß<br />
man die Unbekannte, das X, gar nicht "Gott" nennen kann, ohne einige<br />
antike und einige christliche Fransen oder Eigenschaften des alten Gott-<br />
Fetisches mitzuverstehen und sie so der neuen Religion als unwillkommenes<br />
Erbstück einer toten Vergangenheit mitzubringen.<br />
Unter den Zügen, die in dem Buche von Göhre das Bild der letzten<br />
Jahrhundertwende so treffend machen, ist keiner so bedeutungsvoll wie der:<br />
wieder hängt nur noch das platte Land mit seinen Bauern an der alten<br />
Göhre 389<br />
Weltansicht, wieder wächst in den Städten mit ihrem Luxus und ihrem<br />
Arbeiterelend die neue Weltansicht heran. Einst, vor sechzehnhundert<br />
Jahren, war es der Gegensatz zwischen dem Heidentum, das auf die Dörfer<br />
zurückgedrängt worden war, und dem Christentum, das sich in Rom, im Byzanz,<br />
in Alexandrien als herrschende Macht zu fühlen begann. Heute ist es<br />
der gleiche Gegensatz zwischen der siechen alten Religion die auf die Dörfer<br />
gegangen ist, und einer nur noch nicht konsolidierten, noch nicht benannten<br />
neuen Macht (Sozialismus, Monismus, Kommunismus, man weiß noch<br />
nicht recht), die die großen und die kleinen Städte und jeden Fabriksort<br />
erobert hat; in den Fabriken auch schon die Frauen. Umsonst versucht der<br />
Staat, wie damals die Kaiser vor Constantinus, der Bewegung Einhalt zu<br />
tun; in jedem Augenblicke, da die Machthaber die Zügel etwas lockerer<br />
lassen, äußert sich überall der neue Glaube oder Unglaube sogar in der<br />
unbequem gemachten gesetzlichen Form eines Austritts aus der Kirche;<br />
während des Kulturkampfes gab es in Berlin sehr viele Schutzleute, die<br />
ihre Ehe ohne Beteiligung der Kirche schlossen und ihre Kinder nicht taufen<br />
ließen. Wie zwei fremde Nationen stehen sich in jedem Lande die Gläubigen<br />
und die Ungläubigen gegenüber; und die Machthaber sind nur zu blind, um<br />
zu sehen, daß die Ungläubigen bereits die Mehrheit hätten, wenn der Staat<br />
nicht die Gewohnheit des Glaubens mit allen seinen Mitteln stützte. Die<br />
Machthaber — nicht nur die monarchischen — fürchten immer, den Ast<br />
abzusägen, auf welchem sie sitzen: die stumme Unterwerfung unter jede<br />
Autorität. "Die Religion muß dem Volke erhalten bleiben." Dem Volke.<br />
Zu seinem eigenen Nutzen und zur Bequemlichkeit der Regierenden.<br />
Seitdem die Regierenden den Glauben mit Bewußtsein verloren haben,<br />
so ungefähr seit den ersten Regungen der Renaissance, wird der freche Satz<br />
in immer neuen Formen wiederholt: daß dem Volke die Vorstellungen<br />
erhalten werden müssen, auch mit Gewalt, an w e l c h e die Gewalthaber nicht<br />
mehr glauben. Es ist ein politischer Satz. Der Satz eines politischen Glaubens,<br />
der sich selbst wiederum überlebt hat. Man könnte das schnurrig so<br />
ausdrücken: der Glaube, daß der Glaube dem Pöbel erhalten werden<br />
müsse, muß den oberen Zehntausend erhalten werden.<br />
Ich habe mit den Bemerkungen zu Radbruch, Tillich und dem letzten<br />
Buche Göhres schon die Weltrevolution von 1918 überschritten, bevor ich<br />
noch die Bedeutung des Weltkrieges für die Geistesbefreiung in einem<br />
letzten Worte dargelegt hätte. Die Weltrevolution von 1918 schien ja endlich<br />
ein richtiger „Markstein", nicht nur in der halbgebildeten Plakatsprache<br />
des letzten deutschen Kaisers. Aber nein. Diese Revolution war gar nicht