Band 4 - m-presse
Band 4 - m-presse
Band 4 - m-presse
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
220<br />
Viertes Buch. Sechster Abschnitt<br />
man gern an seine Ehrlichkeit glauben möchte, wenn er (hier hat er das<br />
Wort "Matratzengruft" geprägt) die Barmherzigkeit Gottes anfleht und<br />
sich von dem hohen Klerus des Atheismus abwendet. Er sei heimgekehrt<br />
zu Gott, nachdem er lange Zeit bei den Hegelianern die Schweine gehütet;<br />
er könne den Gott der Pantheisten nicht mehr brauchen, er begehre einen<br />
Gott, der zu helfen vermag — "und das ist doch die Hauptsache" —<br />
also einen persönlichen Gott mit allen den Eigenschaften, die im Katechismus<br />
stehen. Und er begehre als Zuwage die Unsterblichkeit der Seele.<br />
Man vergleiche mit diesem Nachworte Heines Glaubensbekenntnis im<br />
Zweiten <strong>Band</strong>e des "Salon" ("Zur Geschichte der Religion und Philosophie<br />
in Deutschland", ein bei mancher Oberflächlichkeit doch oft meisterliches<br />
Stück) und man wird mir zustimmen: da Heine durch seine Krankheit geistig<br />
nicht geschwächt war, kann sein Widerruf nicht aufrichtig gewesen sein.<br />
Damals (1833 bis 1837) verglich er Kants Vernunftkritik mit der Guillotine,<br />
durch die der König geköpft worden war: mit einem Schwerte, das den<br />
Deismus hingerichtet hatte; dem sterbenden Gotte wurden die Sakramente<br />
gereicht, wurde ein De profundis gesungen. Und der getaufte Jude<br />
Heine wollte nicht einmal mehr etwas von der angeblichen Vernunftreligion<br />
der Juden wissen: „Man wendet sich nicht an die überwelken<br />
Reize der Mutter, wenn einem die alternde Tochter nicht mehr behagt."<br />
Ich finde in diesem selben Buche des "Salon" (Ausgabe von Elster,<br />
IV, S. 241) übrigens ein unbewußtes Eingeständnis Heines, daß er ein<br />
Lügner sei. Er singt da, sehr hübsch, ein Loblied auf Lessing, und fügt das<br />
erstaunlich verräterische Wort hinzu: „Merkwürdig ist es, daß dieser witzigste<br />
Mensch in Deutschland auch zugleich der ehrlichste war." Das Wort ist<br />
meines Erachtens furchtbar; Heine, der berufen schien, die Waffen des<br />
Witzes als Ritter ohne Furcht und Tadel zu brauchen wie Liscow, wie<br />
Lessing, wie Lichtenberg, ist bei aller Begabung so erbärmlich (im Letzten),<br />
daß er gar nicht begreift: Witz ohne Ehrlichkeit ist nichtswürdig. Ich will<br />
damit natürlich nicht der Abstammung Heines die Schuld zuschieben;<br />
auch sein Meister Hegel war (im Letzten) so unehrlich, daß sich Orthodoxe<br />
und Gottlose gleicherweise auf ihn berufen konnten.<br />
Sechster Abschnitt<br />
Der Materialismus<br />
Der Materialismus, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder<br />
einsetzte und namentlich in Deutschland eine Schule bildete, war auf dem<br />
Gebiete der Philosophie eine notwendige Reaktion gegen den "Idealis<br />
Praktischer Materialismus 221<br />
mus" der Hegelei; rationalistisch war dieser Materialismus eigentlich ebenso<br />
wie der Idealismus; und auch ebenso dogmatisch. Ganz anders steht es<br />
um den praktischen Materialismus, der sich in der gleichen Schule als<br />
materialistischer Atheismus gebärdete; bei diesem hatten die Überzeugungen<br />
des Historismus und des Sozialismus entscheidend mitgewirkt.<br />
Ich brauche kaum zu wiederholen, daß der philosophische Materialis Praktischer<br />
mus oder die Lehre vom Stoffe als dem einzig Wirklichen wissenschaftlich<br />
gar nicht in Betracht kommt, auch schon vor siebzig Jahren gar nicht mehr<br />
in Betracht kam, daß aber die Vertreter dieser Weltansicht dennoch kulturgeschichtlich<br />
sehr wirksam waren, mit ihren dicken Stirnknochen Mauerbrecher<br />
gegen die Kirche. Der dogmatische Materialismus als Philosophie<br />
muß ja dem Gottglauben nicht durchaus widersprechen, wie schon der<br />
materialistische Deismus solcher Engländer wie Priestley beweisen kann;<br />
und die tägliche Erfahrung lehrt, daß die gemeine Frömmigkeit (nicht nur<br />
der Katholiken) sich den Gott und die Seele, den Himmel und die Hölle<br />
sehr stofflich vorstellt. Man müßte — um Unklarheiten zu vermeiden —<br />
genauer, als üblich ist, unterscheiden zwischen dem Atomismus, der eine<br />
Hypothese ist wie andere Hypothesen, dem Mechanismus, der eine<br />
Methode ist wie andere Methoden, und dem praktischen Materialismus,<br />
der eher eine Frage des Temperaments ist, als eine Frage der Erkenntnis.<br />
F. A. Lange hat ein materialistisches deutsches Büchlein aus dem<br />
Anfang des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt, das immerhin einiges Aufsehen<br />
gemacht zu haben scheint, dessen Verfasser aber nicht mit Sicherheit<br />
zu bestimmen ist. Der Titel war: "Briefwechsel vom Wesen der Seele."<br />
Ich erwähne dieses Buch jetzt, weil mir eine Ähnlichkeit aufgefallen ist<br />
zwischen dem Gedankengange von 1860 und dem von 1713; damals hatte<br />
Descartes die Tiere für Maschinen erklärt, dann erschreckt innegehalten<br />
und es eben diesem Deutschen überlassen (lange vor Lamettrie), den Begriff<br />
der Maschine auch auf den Menschen auszudehnen; hundertfünfzig Jahre<br />
später hatte Darwin die Entstehung der Tierarten studiert und wagte den<br />
großen Schritt, den Menschen mit zu diesen Tierarten zu rechnen; es ist nur<br />
ein Nebenumstand, daß es wieder ein systematischer Deutscher war, der den<br />
Gedanken plump verallgemeinerte und mit seiner Hilfe alle Welträtsel zu<br />
lösen glaubte: Haeckel.<br />
Was ich nun den praktischen Materialismus genannt habe, den<br />
temperamentvollen Willen, sich von Geistererscheinungen zu befreien, das<br />
stand 1713 und 1860 in gleichem Widerspruch gegen die kritische Philosophie.<br />
Die hatte (eigentlich bereits bei Locke) zu einer Psychologie<br />
ohne Seele geführt und zu einem Agnostizismus in der Welterklärung;<br />
der praktische Materialismus jedoch ("Der liebe Gott weiß Alles, der