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Band 4 - m-presse

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Viertes Buch. Sechster Abschnitt<br />

man gern an seine Ehrlichkeit glauben möchte, wenn er (hier hat er das<br />

Wort "Matratzengruft" geprägt) die Barmherzigkeit Gottes anfleht und<br />

sich von dem hohen Klerus des Atheismus abwendet. Er sei heimgekehrt<br />

zu Gott, nachdem er lange Zeit bei den Hegelianern die Schweine gehütet;<br />

er könne den Gott der Pantheisten nicht mehr brauchen, er begehre einen<br />

Gott, der zu helfen vermag — "und das ist doch die Hauptsache" —<br />

also einen persönlichen Gott mit allen den Eigenschaften, die im Katechismus<br />

stehen. Und er begehre als Zuwage die Unsterblichkeit der Seele.<br />

Man vergleiche mit diesem Nachworte Heines Glaubensbekenntnis im<br />

Zweiten <strong>Band</strong>e des "Salon" ("Zur Geschichte der Religion und Philosophie<br />

in Deutschland", ein bei mancher Oberflächlichkeit doch oft meisterliches<br />

Stück) und man wird mir zustimmen: da Heine durch seine Krankheit geistig<br />

nicht geschwächt war, kann sein Widerruf nicht aufrichtig gewesen sein.<br />

Damals (1833 bis 1837) verglich er Kants Vernunftkritik mit der Guillotine,<br />

durch die der König geköpft worden war: mit einem Schwerte, das den<br />

Deismus hingerichtet hatte; dem sterbenden Gotte wurden die Sakramente<br />

gereicht, wurde ein De profundis gesungen. Und der getaufte Jude<br />

Heine wollte nicht einmal mehr etwas von der angeblichen Vernunftreligion<br />

der Juden wissen: „Man wendet sich nicht an die überwelken<br />

Reize der Mutter, wenn einem die alternde Tochter nicht mehr behagt."<br />

Ich finde in diesem selben Buche des "Salon" (Ausgabe von Elster,<br />

IV, S. 241) übrigens ein unbewußtes Eingeständnis Heines, daß er ein<br />

Lügner sei. Er singt da, sehr hübsch, ein Loblied auf Lessing, und fügt das<br />

erstaunlich verräterische Wort hinzu: „Merkwürdig ist es, daß dieser witzigste<br />

Mensch in Deutschland auch zugleich der ehrlichste war." Das Wort ist<br />

meines Erachtens furchtbar; Heine, der berufen schien, die Waffen des<br />

Witzes als Ritter ohne Furcht und Tadel zu brauchen wie Liscow, wie<br />

Lessing, wie Lichtenberg, ist bei aller Begabung so erbärmlich (im Letzten),<br />

daß er gar nicht begreift: Witz ohne Ehrlichkeit ist nichtswürdig. Ich will<br />

damit natürlich nicht der Abstammung Heines die Schuld zuschieben;<br />

auch sein Meister Hegel war (im Letzten) so unehrlich, daß sich Orthodoxe<br />

und Gottlose gleicherweise auf ihn berufen konnten.<br />

Sechster Abschnitt<br />

Der Materialismus<br />

Der Materialismus, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder<br />

einsetzte und namentlich in Deutschland eine Schule bildete, war auf dem<br />

Gebiete der Philosophie eine notwendige Reaktion gegen den "Idealis­<br />

Praktischer Materialismus 221<br />

mus" der Hegelei; rationalistisch war dieser Materialismus eigentlich ebenso<br />

wie der Idealismus; und auch ebenso dogmatisch. Ganz anders steht es<br />

um den praktischen Materialismus, der sich in der gleichen Schule als<br />

materialistischer Atheismus gebärdete; bei diesem hatten die Überzeugungen<br />

des Historismus und des Sozialismus entscheidend mitgewirkt.<br />

Ich brauche kaum zu wiederholen, daß der philosophische Materialis­ Praktischer<br />

mus oder die Lehre vom Stoffe als dem einzig Wirklichen wissenschaftlich<br />

gar nicht in Betracht kommt, auch schon vor siebzig Jahren gar nicht mehr<br />

in Betracht kam, daß aber die Vertreter dieser Weltansicht dennoch kulturgeschichtlich<br />

sehr wirksam waren, mit ihren dicken Stirnknochen Mauerbrecher<br />

gegen die Kirche. Der dogmatische Materialismus als Philosophie<br />

muß ja dem Gottglauben nicht durchaus widersprechen, wie schon der<br />

materialistische Deismus solcher Engländer wie Priestley beweisen kann;<br />

und die tägliche Erfahrung lehrt, daß die gemeine Frömmigkeit (nicht nur<br />

der Katholiken) sich den Gott und die Seele, den Himmel und die Hölle<br />

sehr stofflich vorstellt. Man müßte — um Unklarheiten zu vermeiden —<br />

genauer, als üblich ist, unterscheiden zwischen dem Atomismus, der eine<br />

Hypothese ist wie andere Hypothesen, dem Mechanismus, der eine<br />

Methode ist wie andere Methoden, und dem praktischen Materialismus,<br />

der eher eine Frage des Temperaments ist, als eine Frage der Erkenntnis.<br />

F. A. Lange hat ein materialistisches deutsches Büchlein aus dem<br />

Anfang des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt, das immerhin einiges Aufsehen<br />

gemacht zu haben scheint, dessen Verfasser aber nicht mit Sicherheit<br />

zu bestimmen ist. Der Titel war: "Briefwechsel vom Wesen der Seele."<br />

Ich erwähne dieses Buch jetzt, weil mir eine Ähnlichkeit aufgefallen ist<br />

zwischen dem Gedankengange von 1860 und dem von 1713; damals hatte<br />

Descartes die Tiere für Maschinen erklärt, dann erschreckt innegehalten<br />

und es eben diesem Deutschen überlassen (lange vor Lamettrie), den Begriff<br />

der Maschine auch auf den Menschen auszudehnen; hundertfünfzig Jahre<br />

später hatte Darwin die Entstehung der Tierarten studiert und wagte den<br />

großen Schritt, den Menschen mit zu diesen Tierarten zu rechnen; es ist nur<br />

ein Nebenumstand, daß es wieder ein systematischer Deutscher war, der den<br />

Gedanken plump verallgemeinerte und mit seiner Hilfe alle Welträtsel zu<br />

lösen glaubte: Haeckel.<br />

Was ich nun den praktischen Materialismus genannt habe, den<br />

temperamentvollen Willen, sich von Geistererscheinungen zu befreien, das<br />

stand 1713 und 1860 in gleichem Widerspruch gegen die kritische Philosophie.<br />

Die hatte (eigentlich bereits bei Locke) zu einer Psychologie<br />

ohne Seele geführt und zu einem Agnostizismus in der Welterklärung;<br />

der praktische Materialismus jedoch ("Der liebe Gott weiß Alles, der

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