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Band 4 - m-presse

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332 Viertes Buch. Neunter Abschnitt<br />

Denker, ganz individuell, der eigentliche Schöpfer eines neuen Dichterideals,<br />

ein Umwerter des Begriffs Poesie. Es wird berichtet, daß Kierkegaards<br />

Vater, ein reich gewordener Tagelöhner, als Knabe einmal Gott<br />

verflucht habe; das war Sörens Erbe, das er wohl noch angetreten hätte,<br />

wenn er lange genug gelebt hätte. In den wenigen Jahren, die ihm seit<br />

der Entdeckung seines Schriftstellerberufs gegönnt waren, entwickelte er<br />

sich immer weiter nach links zu einem erbitterten Gegner des kirchlichen<br />

Christentums. Mit lachender Melancholie, mit tiefernster Ironie. Um die<br />

Zeit, da Stirner als „Einziger" alle Gedankenwelt zerschlug, trat Kierkegaard<br />

auf, als der "Einzelne", der das Gefühl der schlechthinnigen Unabhängigkeit<br />

predigte. Den Kompromissen auch der Junghegelianer, ihrem "Sowohl<br />

— Als-auch" stellte er schroff sein "Entweder —Oder" gegenüber, was<br />

dann Ibsen lebendiger mit "Alles oder Nichts" übersetzte.*) Das Christentum,<br />

welchem Kierkegaard bis an sein Ende noch etwa treu blieb, war<br />

ein Bild der Phantasie, dem nichts Wirkliches entsprach, ein bloßes Paradoxon;<br />

die sogenannte christliche Welt, die wirklich geworden war, stand<br />

unter Anklage. Von da aus nahm die Anklage-Literatur, die Anklage-Poesie<br />

ihren Ausgang, nicht kritisch und nüchtern wie bei den Junghegelianern<br />

und den Materialisten, vielmehr mit inbrünstiger, fast mystischer Sehnsucht.<br />

In anderen Ländern hatten verwandte Geister ähnliche Wege gefunden,<br />

keiner von ihnen wirkte so unmittelbar auf seine Umwelt, wie<br />

Kierkegaard auf Ibsen wirkte.<br />

Henrik Ibsen (geb. 1828, gest. 1906) führte die Anklage-Poesie zum<br />

Siege. An die Stelle der herrschenden Religion setzte er die Andacht zum<br />

Individuum, das wilde Lachen über den Optimismus, die Anerkennung<br />

der Lebenslüge; und Individualismus, Pessimismus, das Recht auf Lüge<br />

widersprechen jeder abendländischen Religion. Das erste Werk, mit welchem<br />

Ibsen den ihm gebührenden Rang einnahm, das Schauspiel „Brand", ist<br />

vielleicht doch ein Bild von Kierkegaards Persönlichkeit; Ibsens Erklärung<br />

darüber ist beinahe mehr ein Zugeständnis als eine Ableugnung. Daher<br />

die vielen christlichen Motive, wenn auch der christelnde Schluß in das<br />

Schuldbuch des Theaterschriftstellers zu schreiben wäre. Das aber darf<br />

ruhig gesagt werden, daß Ibsen wohl die Kraft des „Alles oder Nichts"<br />

bewunderte, die Askese („Alles") des Pfarrers Brand aber ablehnte; er<br />

zeichnet es als grauenhaft, wie Brand konsequent christlich und unmenschlich<br />

gegen seine Mutter, gegen sein Weib auftritt. Antichristlich ist Ibsen<br />

*) Man achte wohl darauf: der Dreitakt der Hegelschen Dialektik widersprach dem schroffen<br />

Zweitakte Kierkegaards; aber just der Scharfsinn Hegels hatte die Antithese "Alles"<br />

und "Nichts" so herausgearbeitet, daß höchstens für den Dialektiker ihre Überwindung möglich<br />

war, nicht für den unphilosophisch handelnden Menschen.<br />

Henrik Ibsen 333<br />

auch in „Peer Gynt" und im Drama des Julianos Apostata — nicht ohne<br />

einige Kompromisse. Das Reich, das kommen soll, ist das dritte Reich,<br />

nach Überwindung des Christentums. Und in den modernen Dramen,<br />

die dann Ibsen zu einem der Beherrscher der deutschen Bühne gemacht<br />

haben, ist das Christentum und jede Religion wirklich schon dadurch überwunden,<br />

daß in den inneren Kämpfen der handelnden Personen die letzten<br />

Menschheitsfragen (Freiheit und Verantwortung) berührt werden, ohne<br />

daß die Religion anders als spöttisch bemüht würde. Das Neue ist, daß<br />

die Vertreter der Kirche nicht mehr tendenziös schlecht gemacht werden<br />

müssen, wie bei Molière, wie bei Voltaire, wie noch in Lessings "Nathan",<br />

daß der Tiefstand dieser Leute vielmehr selbstverständlich ist; der<br />

Pfarrer Manders ist einfach blitzdumm und dabei ein herzensguter schädlicher<br />

Kerl. Ich will noch ein Beispiel geben, aus Ibsens Spätzeit, aus<br />

"Klein Eyolf".<br />

Natürlich wieder nur seinen „Gestalten" in den Mund gelegt ist<br />

die gottlose Lebenshaltung Ibsens an einer wenig beachteten Stelle,<br />

im zweiten Akte. Das Kind ist ertrunken. Allmers kann es nicht fassen.<br />

"Das Leben, das Dasein — das Schicksal, das kann doch nicht alles ganz<br />

sinnlos sein." Und auf Astas leere Antwort auf solche Redensarten, man<br />

wisse darüber nichts Gewisses, sagt er: „Da hast du weiß Gott recht."<br />

Ibsen setzt jedes Wort mit Bedacht hin. Er macht sich über den feineren<br />

Egoisten Allmers ein wenig lustig, nicht so laut wie über den dummen<br />

und groben Egoisten Hjalmar Ekdal, aber doch. Allmers lenkt sich ja auch<br />

von seinem Schmerze ab durch Gedanken an sein Mittagessen; und er,<br />

der ein Buch über Verantwortung schreibt, weicht der eigenen Verantwortung<br />

aus. Er hadert mit dem Schicksal und sagt „weiß Gott". Und<br />

gleich in der folgenden Szene wird das Kichern Ibsens über Allmers'<br />

Verhältnis zu seinem Gotte vernehmlicher. Er hat die ganz irdische, ihn<br />

aber an Ehrlichkeit und Gesundheit überragende Rita zur Atheistin gemacht,<br />

zur Zweiflerin; denn er wollte sie nicht „mit leeren Vorstellungen durchs<br />

Leben gehen lassen". Jetzt, nach dem Tode des Kindes, träumt er, es<br />

sei gerettet, und lobpreist Gott dafür. "Es war im Schlaf", meint er entschuldigend.<br />

Den irdischen Einfall, das Unrecht gegen das eigene Kind<br />

durch Liebe zu fremden Kindern zu sühnen, hat Rita; Allmers hißt nur<br />

die Flagge, die auf Halbmast stand.<br />

Bei Ibsen war die geistige Abstammung einfach genug festzustellen, Tolstoi<br />

die Überwindung von Hegels „Sowohl — Als-auch" durch Kierkegaards<br />

auf die Spitze getriebene Forderung „Entweder — Oder"; bei Tolstoi<br />

ist die Genealogie nicht so einfach zu übersehen, weil Tolstoi kein so klarer<br />

Kopf war wie der Norweger, dafür —trotz seiner Tendenzschriftstellerei —

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