Band 4 - m-presse
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344<br />
Viertes Buch. Reunter Abschnitt<br />
Die deutsche Revolution von 1918 war nicht so konsequent. Im Wahlkampfe<br />
wenigstens gaben die Sozialdemokraten und die Demokraten um die<br />
Wette Erklärungen darüber ab, daß sie dem Volk die Religion erhalten wollten.<br />
Sogar die alte, feige oder vorsichtige Regel schien vergessen: Religion sei<br />
Privatsache. Denn Sozialismus ist in seinem Wesen dem Individualismus<br />
feindlich, so nahe in den führenden Geistern der Gegenwart Sozialismus<br />
und Individualismus beieinander wohnen. In dieser Frage sind wir alle<br />
noch oder wieder "Zerrissene", wie die führenden Männer des jungen Europa,<br />
von denen wir alle herkommen. Ich erinnere wieder daran, wie sogar<br />
ein so ganzer Mann wie Vischer vor fünfzig Jahren in seiner schönen und<br />
doch unglücklichen (weil politischen) Kritik von Straußens "Altem und neuem<br />
Glauben" offen die Partie der „Halben" ergriff; dem "Volke" sollte etwas<br />
Religion erhalten bleiben. Liebe zum Volke war da, aber kein Vertrauen.<br />
Als einer der leidenschaftlichsten und glühendsten Sprecher der Anklagedichtung,<br />
deren Kopf und Herz bisher durch den Norweger Ibsen<br />
und den Russen Tolstoi zu Worte gekommen sind, darf auch der Holländer<br />
Multatuli nicht unerwähnt bleiben, der ein guter Europäer war, wenn<br />
er auch die Eindrücke, die ihm den Aufschrei erpreßten, in Ostasien erlebt<br />
hatte, als Kommis einer nichtswürdigen Kolonialwirtschaft. Unchristlichmenschlich<br />
war auch sein einprägsamstes Buch, der Roman "Max Havelaar";<br />
ungefähr auf dem vormärzlichen Standpunkte; aber Multatuli<br />
ist viel freier als Feuerbach oder das junge Deutschland: nur Narr, nur<br />
Dichter. Seinen vollen Radikalismus in religiösen Fragen muß man jedoch<br />
an versteckteren Stellen aufsuchen. Ich denke da an die Gedanken<br />
und Geschichten, die er (eigentlich Eduard Douwes Dekker, geb. 1820,<br />
gest. 1887) im Jahre 1861 unter dem Titel "Minnebrieven" herausgab,<br />
denke zunächst an die "Urgeschichte der Autorität". Alle Macht sei aus<br />
Gott. Wer Macht nötig habe, mache sich einen Gott. Die Zahl der<br />
Götter sei so groß wie die Zahl der Begierden. Bei jeder neuen Begierde<br />
ein neuer Gott. "Eine Dienstmagd ging aus mit den Kindern<br />
ihres Herrn. Sie erhielt den Befehl, sie gut zu bewachen. Aber siehe,<br />
die Kinder waren ungehorsam und liefen fort, so daß ihre Aufsicht umsonst<br />
und ihre Sorge eitel war. Darauf schuf sie aus Nichts einen schwarzen<br />
Hund, der jedes Kind beißen sollte, das nicht in ihrer Nähe bliebe. Und die<br />
Kinder waren in Furcht vor diesem Hund, und wurden sehr gehorsam<br />
und blieben bei ihr. In der Überlegung ihres Herzens sahe sie den Gott<br />
an, den sie gemacht hatte, und siehe, er war sehr gut. Doch die Kinder<br />
wurden wahnsinnig aus Furcht vor diesem Hund. Und das sind sie geblieben<br />
bis auf den heutigen Tag." Tragischer, aber ebenso gottlos wie die<br />
Geschichte von Putois, die Anatole France erfunden hat (vgl. S. 136).<br />
MU1tatU1i 345<br />
In der Allegorie stecken geblieben ist die folgende Geschichte von dem<br />
Reisenden, der seine Schätze von einem ganzen Heere gegen die Räuber<br />
bewachen ließ. Diese werden geschlagen. Einem vorsichtigeren Räuber<br />
gibt dann ein Einsiedler den Rat, dem Reisenden einen bestimmten Strick<br />
um den Hals zu werfen; der werde dann seinen Knechten befehlen, sich<br />
zur Erde niederzubeugen und alles herzugeben. „Und es geschah also,<br />
wie der heilige Mann gesagt hatte. Doch der Reisende und seine Gesellen<br />
befanden sich sehr schlecht dabei. Dieser Strick hieß Glaube, und er hat<br />
seine Macht behalten bis auf den heutigen Tag." Man sieht: so gotteslästerisch,<br />
wie das Geschäft der holländischen Kompagnie auf Java, so blasphemisch<br />
waren diese Gedanken und Geschichten des rebellischen Beamten;<br />
man halte dagegen die Machtanbetung, mit welcher die Tagesgröße Tagore-<br />
Rabindranath seine indischen Landsleute zur Unterwerfung unter die Vorsehung<br />
und unter England mahnt. Multatuli ist ebenso ein echter Held und<br />
ein Befreier, wie Tagore nur ein Theaterfechter ist und ein Machtanbeter —<br />
im fernen Asien; aber sogar Multatuli ist „zerrissen" durch den Zwiespalt<br />
zwischen Sozialismus und Individualismus in seiner scheinbar einen Seele.<br />
Soll ich nun den jüngsten starken Rebellen, den internationalsten Deutschen,<br />
soll ich Friedrich Nietzsche ebenfalls zu den „Zerrissenen" rechnen?<br />
Für den Entschluß, Friedrich Nietzsche, den Umwerter aller Werte, Nietzsche<br />
den Antichrist, an die starken Ausländer zu reihen, deren Einfluß wir erfahren<br />
haben, will ich mich nicht auf die Torheit berufen, mit der sich der<br />
stolze Mann — sich selbst einmal untreu — seiner polnischen Abstammung<br />
zu rühmen pflegte. Da ist fast nur Familienlegende. Darauf darf aber<br />
hingewiesen werden, daß Nietzsche in seinem Stil von den raffiniertesten<br />
französischen Aphoristikern herkam, in seiner sprunghaften Erkenntniskritik<br />
von dem trotzig internationalen Schopenhauer, in seiner Revolution gegen<br />
die alte Kultur von Ibsen, und daß er — als er erst die "Krankheit" Richard<br />
Wagner überwunden hatte — den Begriff des "guten Europäers"*)<br />
prägte, des Übermenschen, der über Nation steht und über Religion.<br />
Zwischen Feuerbach und Nietzsche steht noch, ein Antichrist wie sie, J. Burckhardt<br />
aber abgeklärter und eigentlich gar nicht angriffslustig, nur noch Beobachter<br />
und Deuter, Jakob Burckhardt (1818—1897), der nichts als Historiker<br />
*) Auch darauf hätte ich mich berufen können, daß Nietzsche, von den Philosophieprofessoren<br />
totgeschwiegen, erst von dem internationalen Dänen Georg Brandes — auch<br />
einem persönlichen Feinde Gottes und seiner Heiligen — "entdeckt" wurde. Daß der gute<br />
Europäer Nietzsche nachher im Weltkriege zum grundlegenden Vertreter deutscher Überheblichkeit<br />
gemacht wurde, das lag nur an einer verkehrten Auslegung seines Schlagwortes<br />
"Wille zur Macht" (das er nur psychologisch gemeint hatte, nicht politisch) und an<br />
der ungeheuern Verbreitung des "Zarathustra", den eine Buchhändlerspekulation in die<br />
Schützengräben geworfen hatte.