Band 4 - m-presse
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232 Viertes Buch. Sechster Abschnitt<br />
lage wurde zum erstenmal leider eine verwirrende Einleitung von Hermann<br />
Cohen vorausgeschickt.*)<br />
Es ist einfach nicht wahr, daß Lange ein Gegner der Materialisten war;<br />
er hat geradezu eine Verteidigung übernommen, nicht nur von Epikuros<br />
und Gassendi, sondern auch von Lamettrie und Holbach, er hat glänzend<br />
und doch richtig die Notwendigkeit der materialistischen Methode für alle<br />
Naturforschung behauptet, nur freilich ebenso überzeugend nachgewiesen,<br />
daß der Materialismus nicht das letzte Wort einer befriedigenden Weltansicht<br />
sein könne. Aber er hat nichts zu tun mit dem quallenhaften ethischen<br />
Idealismus vieler Neukantianer, sein Idealismus ist der kritische aller<br />
großen Denker; darum hat er auch einen scholastischen Irrtum Kants, daß<br />
er nämlich das Apriori metaphysisch deduzierte, mit überlegenem Scharfsinn<br />
berichtigt. Überhaupt gehören die Ausführungen über Kant und den<br />
Materialismus, im ersten Abschnitt des zweiten <strong>Band</strong>es, zu dem Besten,<br />
was über die Vernunftkritik geschrieben worden ist.<br />
Langes Gedanken über die Religion wollen wir uns von keinem<br />
Cohen krummbiegen lassen. Wohl hat der Geschichtschreiber des Materialismus<br />
— auch er vielleicht nicht als der letzte — die Religion wieder<br />
einmal dem Volke erhalten wissen wollen, aber sogleich hinzugefügt, die<br />
Bedrohung der Geistesfreiheit durch die Kirche, die Hemmung des Fortschritts<br />
müsse ein Ende nehmen. „Fällt die Religion mit der abergläubischen<br />
Furcht dahin, so mag sie fallen." Es lasse sich kaum ein so niedriger Grad<br />
des Verstandes denken, der nicht vollkommen ausreichend wäre, den<br />
*) Die Freunde und Verehrer von F. A. Lange sollten es endlich fordern, daß<br />
die zudringlich fälschende Einleitung des berühmten Neukantianers dem schönen Buche<br />
nicht mehr vorgesetzt würde; wer die Ausführungen Cohens, der da den freien Lange und<br />
sich selbst bepredigt hat, nicht entbehren kann, der mag sich an die vorhandene Sonderausgabe<br />
halten; wir sind ja doch über die Zeit hinaus, da man vor hundertfünfzig und mehr<br />
Jahren einen Spinoza nur abzudrucken wagte, wenn man eine Warnung und Abschwächung<br />
von Christian Wolff hinzufügte. Und Cohen war in unseren Tagen bei weitem nicht so<br />
wertvoll wie damals der Aufklärer Wolff. Cohen steht vor der Gedankenarbeit Langes wie<br />
ein verkehrt gerichteter Wegweiser. Er leugnet gar nicht, daß er nicht Lange erklären will,<br />
daß er vielmehr seinen eigenen prinzipiellen Standpunkt hervorkehrt; und der ist ein rhetorischer,<br />
scheinheiliger Idealismus, verziert mit Brocken aus Platon, Kant und Hegel. Ich<br />
will gern zugeben, daß Cohen vor vierzig Jahren manches Gute über Erkenntniskritik und<br />
Mathematik geschrieben hat; aber von Lange trennt ihn für immer schon die einzige Tatsache,<br />
daß Lange jede Metaphysik für unmöglich hält, wertvoll nur als eine Begriffsdichtung,<br />
daß er in Kant bloß den Erfahrungskritiker verehrt, die Vernunftkritik psychologistisch deutet,<br />
während Cohen ein nachgeborener Metaphysiker ist. Vollends der religiösen Frage steht<br />
Cohen mit elenden Redensarten gegenüber, natürlich äußerst gebildet und modern, mit<br />
den Ansichten etwa eines jüdischen Protestantenvereins. "Die Ethik muß die Gottesidee<br />
in ihren Lehrgehalt aufnehmen." Ganz ungehörig ist es, daß Cohen die Gelegenheit benützt,<br />
wieder einmal für das Alte Testament Propaganda zu machen und den Schatten Langes<br />
gegen den Antisemitismus wachzurufen. Das hat wirklich nichts zu schaffen mit der Geschichte<br />
des Materialismus. Cohen wird uns, fürchte ich, hier noch einmal beschäftigen.<br />
F. A. Lange 233<br />
Unsinn der Dogmen zu erkennen. Trennung von Kirche und Staat genüge<br />
nicht; gefordert wird Herrschaft des Staates über die Kirche, Trennung nur<br />
des Staates und des Glaubens. Eine Theologie, die ihren Anspruch auf<br />
ein Geheimnis nicht feierlich aufgebe, müsse von den Universitäten ganz<br />
verbannt werden. Der alte Gott muß doch wohl auch für Lange tot sein,<br />
denn er sagt: „In solchen Zeiten (wie heute wieder) wird das vergängliche<br />
Material, in dem unsere Vorfahren das Erhabene und Göttliche ausprägten,<br />
wie sie es eben zu erfassen vermochten, von den Flammen der Kritik verzehrt,<br />
gleich dem organischen Körper, der, wenn der Lebensfunke erlischt,<br />
dem allgemeineren Walten chemischer Kräfte verfällt und in seiner bisherigen<br />
Form zerstört wird." Ein neuer Aufschwung der Idee mag die<br />
Menschheit um eine neue Stufe emporführen.<br />
Und noch eins muß zum Ruhme Langes hervorgehoben werden:<br />
seine Schriften sind wirklich so allgemein verständlich, wie es die Schwierigkeit<br />
der Untersuchungen irgend gestattet. Nur wenige Leser vermögen<br />
die ungeheure Arbeit abzuschätzen, die eine solche Übersetzung in die Gemeinsprache<br />
erfordert, wenn kein Gedanke geopfert werden soll. Büchner<br />
hatte sich das gleiche Ziel gesteckt, hatte es aber nicht erreicht, weil er ein<br />
Flachkopf war (den harten Schädel gegen die Kirchenmauern in Ehren); auch<br />
Lange wollte die sogenannte esoterische Lehrform bis auf den letzten Rest<br />
vertilgen, die Geheimnistuerei der Schule, die eine doppelte Wahrheit<br />
auf Lager hatte: den Atheismus für die Gelehrten, den Glauben für das<br />
Volk. Der Sozialist Lange hielt sich vom Pöbel fern, aber er schrieb seine<br />
Bücher auch für jeden Arbeiter, der den arbeitsreichen Weg zu ihrem Verständnisse<br />
nicht scheute.<br />
Das Lebenswerk Langes wird noch auf ein neues Geschlecht fort Ostwald<br />
wirken und wurde schon entscheidend bei der Überwindung des beschränkten<br />
"Monismus" Haeckelscher Observanz durch den ungleich tieferen und ebenso<br />
organisatorisch begabten Chemiker Wilhelm Ostwald (geb. erst 1853).<br />
Ich greife eigentlich nicht vor, wenn ich diesen starken Prediger der Energielehre<br />
schon hier behandle; er steht auf dem gleichen Boden wie die Materialisten<br />
im Jahrzehnte seiner Geburt, hat uns aber doch Wertvolleres<br />
geboten als die Dogmatiker von Büchner bis Haeckel.<br />
Ich kann aber unmöglich auf das ganze Lebenswerk Ostwalds eingehen;<br />
seine jüngste und nüchternste Schrift über unsere Fragen ist das<br />
Programm "Religion und Monismus"; auf wenig über hundert kleinen<br />
Seiten wird da über Leben und Tod, über Wissenschaft und Moral, über<br />
Geschichte und Religion ein Katechismus zusammengestellt. Ich will gegen<br />
das werbende Büchlein nicht den Zufall geltend machen, daß es unmittelbar<br />
vor dem furchtbaren Weltkriege versprach, der Monismus würde den