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Band 4 - m-presse

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348 Viertes Buch. Neunter Abschnitt<br />

gerade die Tiefe seiner Toleranz und Menschlichkeit sein, die ihn vor dem<br />

feinen Notstande ausweichen läßt, welchen das Tolerieren selbst mit sich<br />

bringt." Der freie Geist werde sich der Religionen zu seinem Züchtungsund<br />

Erziehungswerke bedienen, wie er sich der jeweiligen politischen und<br />

wirtschaftlichen Zustände bedienen wird; wenn eine Religion sich selber<br />

letzter Zweck sein wolle, werde sie zu teuer bezahlt. Das ist die schlimme<br />

Gegenrechnung, die Nietzsche, der immer wieder ein religiöser Atheist sein<br />

will, wie Schopenhauer aufstellt: "In der Gesamtabrechnung gehören<br />

die bisherigen, nämlich souveränen (soll heißen: nicht von freien Geistern<br />

zu Züchtungszwecken benützten) Religionen zu den Hauptursachen, welche<br />

den Typus Mensch auf einer niedrigeren Stufe festhielten — sie erhielten<br />

zu viel von dem, was zugrunde gehen sollte . . . Gesetzt, daß man mit dem<br />

spöttischen und unbeteiligten Auge eines epikurischen Gottes die wunderlich<br />

schmerzliche und ebenso grobe wie feine Komödie des europäischen<br />

Christentums zu überschauen vermöchte, ich glaube, man fände kein Ende<br />

mehr zu staunen und zu lachen: scheint es denn nicht, daß Ein Wille über<br />

Europa durch achtzehn Jahrhunderte geherrscht hat, aus dem Menschen<br />

eine sublime Mißgeburt zu machen?" Daß dieser Umwerter der Religion<br />

die Kirche erst recht verachten muß, das versteht sich von selbst. "Nicht ihre<br />

Menschenliebe, sondern die Ohnmacht ihrer Menschenliebe hindert die<br />

Christen von heute, uns — zu verbrennen."<br />

Nicht weil Nietzsche bald darauf wahnsinnig wurde, nur weil das Buch<br />

selbst krankhaft ist, mitunter krampfige oder grinsende Züge zeigt, lege ich<br />

auf die Aufschreie der „Götzen-Dämmerung" (abgeschlossen zu Turin am<br />

30. September 1888) geringen Wert. Gleich das Vorwort schließt mit so<br />

einer krampfigen Blasphemie, die in unseren Tagen als eine überflüssige<br />

Geschmacklosigkeit auffällt: Nietzsche hat sich die Aufgabe gestellt, die ewigen<br />

und geglaubtesten Götzen mit dem Hammer abzuklopfen, "auch sagt man,<br />

zumal im vornehmsten Falle, durchaus nicht Götze". Es stehen wundervoll<br />

ziselierte Sätze in den Aphorismen der Götzendämmerung — "Der<br />

Gewissensbiß ist unanständig", "Der Wille zum System ist ein Mangel<br />

an Rechtschaffenheit" —, aber der vornehme Nietzsche mußte schon recht<br />

krank sein, um in seinen Wortspielereien da und dort (es schmerzt, diesen<br />

Namen nennen zu müssen) bis zu den Verrenkungen von Oskar Blumenthal<br />

hinunter zu sinken, von einem Monotono-Theismus zu reden; eines<br />

Nietzsche ist es fast ebenso unwürdig, Menschenliebe ein Zeichen von guter<br />

Verdauung zu nennen, als ob er bei Feuerbach („Der Mensch ist, was er<br />

ißt") in die Schule gegangen wäre.<br />

Bevor ich nach diesen einleitenden Bemerkungen zu Nietzsches Gedankenwerk<br />

übergehe, muß ich noch mit einigen Worten eine der vielen<br />

Friedrich Nietzsche 349<br />

Fragen nach seiner geistigen Herkunft erwähnen. Obgleich ich nicht glauben<br />

kann, daß solche philologische Untersuchungen wertvoll sind oder gar im<br />

Sinne des rebellischen Philologen Nietzsche. Doch eine dieser Fragen ist<br />

nicht gleichgültig, nicht bedeutungslos für den Wesenskern Nietzsches, für<br />

seine vorbildliche (wenn anders in solchen Dingen ein Vorbild möglich<br />

wäre) Vornehmheit. Hat Nietzsche den „Einzigen" von Stirner gekannt? Nietzsche und<br />

Oder vielmehr: warum hat er, da er ihn gewiß gekannt hat, über diese<br />

Bereicherung geschwiegen? Entgegen der Versicherung der Schwester,<br />

daß Nietzsche Stirners Werk nicht gekannt habe (Eifersucht auf einen Toten,<br />

längst Verschollenen?), hat philologische Akribie festgestellt, unzweifelhaft,<br />

daß ein Lieblingsschüler Nietzsches den "Einzigen" 1874 aus der Basler<br />

Bibliothek entliehen habe, auf ausdrückliche Empfehlung seines Lehrers<br />

Nietzsche. Und Frau Overbeck, für mich eine klassische Zeugin, berichtet,<br />

daß Freund Nietzsche doch einmal zu ihr von Stirner geredet habe, als<br />

von einem Kauz, aber mit sichtlicher Scheu; und dann wieder feierlich,<br />

gehoben, wie von einem verwandten Geiste: „Stirner, ja der!" Aber er<br />

habe den Namen nicht gerne genannt. Alles läßt darauf schließen, daß<br />

Nietzsche von Stirner einen überwältigenden Eindruck erhalten habe.<br />

Und warum diesen Eindruck nicht zugestanden? Frau Overbeck deutet an,<br />

Nietzsche hätte auch den bloßen falschen Verdacht eines Plagiats vermieden<br />

wissen wollen. Das ist unvereinbar mit dem Charakter Nietzsches, der von<br />

Stirner kaum mehr geborgt hatte als die stürmische Kraft, nicht den Grundsatz<br />

"Entweder—Oder", sondern nur etwa die Bereitschaft zum Martyrium,<br />

die aus diesem Grundsatze für den Mutigen folgt. Ich glaube also,<br />

daß Franz Overbeck im Rechte war mit seiner Erklärung des Sachverhalts:<br />

Nietzsche, oft sehr mitteilsam, wurde verschlossen, wenn es sich um ein<br />

Erlebnis von ungewöhnlicher Mächtigkeit handelte. Vielleicht war Nietzsche<br />

der erste Mensch, der den „Einzigen" nachzuempfinden vermochte; und<br />

wir sind erst über Nietzsche zum Verständnisse des „Einzigen" gelangt.<br />

Im Jahre 1844 hatte Stirner sein Buch geschrieben; im gleichen Jahre<br />

wurde Friedrich Nietzsche geboren.<br />

Ich glaube also nicht an einen wesentlichen „Einfluß" von Stirner<br />

auf Nietzsche, obgleich die letzte Stimmung Nietzsches (im „Willen zur<br />

Macht") und der einzige Gedanke Stirners sich nur etwa darin unterscheiden,<br />

daß Nietzsche bis zu seiner letzten wachen Stunde ein Dichter blieb,<br />

ein Mensch mit seinem Widerspruch, ein leidenschaftlicher Ringer mit<br />

seinem „Gotte", ein Übersteigerer seiner echten Leidenschaft, trotz aller<br />

Menschenverachtung ein Menschenfischer, daß dagegen Stirner wirklich<br />

nur ein Denker war, seine Leidenschaft hinter Eiseskälte verbarg, wirklich<br />

ein Unmensch, wirklich der Einzige, fast froh in seiner Einsamkeit. Es hatte

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