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Band 4 - m-presse

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316 Viertes Buch. Achter Abschnitt<br />

listischen Neukantianer, dem er — nicht ohne eigene Schuld — zum Opfer<br />

gefallen war, wurde Dühring mehr und mehr in einen unfruchtbaren<br />

Trotz hinein und von seiner ebenfalls nominalistisch-kritischen Lebensarbeit<br />

abgedrängt. Eine Gemeinde hat sich Harnack nicht geschaffen; aber er<br />

hat sich an eine "Richtung" angeschlossen; als Charakter nicht so sympathisch<br />

wie etwa Reimarus, Feuerbach und Strauß, als Gelehrter alles hinter<br />

sich lassend auf dem Gebiete der Religionsgeschichte, blieb er als Bekenner<br />

ein Halber, Mitläufer der "Richtung". Die maßlosen Angriffe<br />

seines Rivalen Overbeck hat er nicht verdient; als Forscher nicht.<br />

Vielleicht ragen aber beide, Dühring und Harnack, schon in das<br />

Wesen der neuen Zeit hinein, der wilhelminischen, der Zeit des Theaters,<br />

der Zeit, deren Muster — lange vor Wilhelm II. — Richard Wagner<br />

war, nach Nietzsches Wort der Schauspieler, besser vielleicht: der unerhörte<br />

Regisseur seiner selbst. Aber mit ihren wissenschaftlichen Anfängen wurzeln<br />

Dühring und Harnack in der noch halbmaterialistischem realpolitischen<br />

Bismarckzeit.<br />

Dühring Eugen Dühring (geb. 1833, gest. 1921), der unter den Zunftgelehrten<br />

sehr viele Feinde, unter den unzufriedenen Halbgelehrten dagegen begeisterte<br />

Anhänger besitzt, wäre ein gutes Beispiel für den ästhetischen Satz,<br />

daß nicht zum Helden einer Tragödie taugt, wer bei allen heroischen Eigenschaften<br />

ein unangenehmer Mensch ist. Sein Lebensschicksal hätte ihm<br />

(auch abgesehen von seiner Erblindung) die herzliche Teilnahme aller freien<br />

Menschen zuwenden müssen, weil er wirklich um seiner Überzeugung<br />

willen gelitten hat; aber die Form, in welcher er seinen Kampf ausfocht,<br />

war unschön, und das Opfer, das er zu bringen hatte, war doch schließlich<br />

nur die akademische Tätigkeit, auf die ein Schopenhauer in etwas vornehmerer<br />

Haltung verzichtete, von Spinozas ganz stolzer Ablehnung jeder<br />

Berufung gar nicht zu reden. Dühring verquickt, zu nicht geringem Schaden<br />

seiner Bücher, seine Urteile mit seinen persönlichen Angelegenheiten, wird<br />

immer wieder polternd, nicht in der gesunden Art von Luther, und macht<br />

es so auch dem Unbeteiligten schwer, ihm gerecht zu werden. Auch erhebt<br />

er sich in seiner Weltanschauung nicht über Comte, in seiner religiösen<br />

Freidenkerei kaum über Feuerbach, wenn er sich auch von den letzten<br />

Phantastereien Comtes befreit hat und den Hegelianer Feuerbach an<br />

Kenntnissen bei weitem überragt. Hier darf an ihm nicht vorbeigegangen<br />

werden, weil er eben eine Gemeinde gebildet hat und dadurch die Zeitströmung<br />

beeinflussen konnte.<br />

Seine Stellung zu den religiösen Fragen ist in der Sache materialistisch<br />

und fast unbedingt atheistisch, wenn er auch nach seiner Gewohnheit die<br />

Atheisten, die ihm nicht in den Kram passen, zu beschimpfen liebt. Er hat<br />

Eugen Dühring 317<br />

sein Glaubensbekenntnis mit unakademischer Tapferkeit besonders in zwei<br />

Schriften niedergelegt. Die erste ist betitelt „Der Wert des Lebens, eine<br />

Denkerbetrachtung im Sinne heroischer Lebensauffassung"; sie erschien<br />

zuerst 1865, also bald nach seiner Habilitierung, aber zehn Jahre vor der<br />

ungerechten Vertreibung aus seinem Lehramt; ich führe sie an nach der<br />

vierten verbesserten Auflage von 1891. Da ich mich mit der Inhaltslosigkeit<br />

der Programme „Sinn des Lebens", „Wert des Lebens" an anderer<br />

Stelle auseinandergesetzt habe, brauche ich mich bei einer Begriffskritik<br />

nicht weiter aufzuhalten.<br />

Schon der Grundgedanke, der nur ein diesseitiges Leben kennt, es<br />

freudig bejaht und alle Jenseitsträume positivistisch ablehnt, stellt das<br />

Buch dem Wesen des Christentums feindlich gegenüber; das Verdienst<br />

Dührings beruht aber nicht in dem leitenden Gedanken, der vor ihm oft<br />

und oft schlagender ausgesprochen worden ist, sondern in sehr vielen trefflichen<br />

Einzelbetrachtungen über die gegenwärtige Zeit. Nicht ganz mit<br />

Unrecht, und doch wieder schief, wird der Sieg des Christentums für das<br />

Aufkommen lebensfeindlicher Weltansichten verantwortlich gemacht; ebenso<br />

richtig und ebenso schief wird der Pessimismus und die Nichtsverhimmlung<br />

Schopenhauers als der letzte romantische Rückfall in den christlichen Jenseitsglauben<br />

dargestellt, als ein Symptom reaktionärer Heuchelei in den<br />

gebildeten Gesellschaftskreisen. Selbstverständlich wird bei jeder Gelegenheit,<br />

bei passenden und bei unpassenden, das Steckenpferd des Judenhasses<br />

geritten. Ein gleichmäßiger, undosierter Zorn richtet sich gegen Richard<br />

Wagner, gegen den „widerwärtigen" Schleiermacher, gegen die Brüder<br />

Grimm, die „Deutschtümler" (die er alle wohl am liebsten als Juden oder<br />

Judengenossen an den Pranger stellen möchte, wenn es nur anginge),<br />

gegen Darwin und gegen den Spiritismus, gegen Heinrich Heine und<br />

gegen die öffentliche Korruption. Dühring predigt eine allgemeine Lebensfreude,<br />

während er einem so ziemlich alle Lebenserscheinungen der Gegenwart<br />

zu vergällen sucht; er predigt also, wie nach ihm Lorm mit etwas<br />

besserem Humor, einen grundlosen Optimismus. Darüber darf aber nicht<br />

übersehen werden, daß Dühring die unehrliche Mystik, die heuchlerische<br />

Neuromantik, die besonders seit der Realpolitik Bismarcks in ganz Europa<br />

vorherrscht, gut gezeichnet und gut auf das immer noch nachwirkende<br />

Entsetzen vor der großen französischen Revolution zurückgeführt hat. Ein<br />

Ausfall gegen die Universitätsprofessoren, die vor den theologischen Ansprüchen<br />

des Staates und der Kirche sich wirklich in unwürdiger Weise<br />

beugen, konnte in diesem Zusammenhange nicht fehlen.<br />

Im zweiten Kapitel wird nun entschieden der Materialismus verteidigt,<br />

zuerst nicht unfein, nicht als die höchste Weltanschauung, sondern

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