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Band 4 - m-presse

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338 Viertes Buch. Reunter Abschnitt<br />

unzufrieden und denkt an eine Auswanderung nach England. Seine pädagogischen<br />

Erfolge haben ihn nicht befriedigt. Die Großen möchte er jetzt<br />

erziehen, das ganze Volk, die Menschheit. Wenn er nur mit sich selbst über<br />

das Ziel einig wäre! Er ist achtundvierzig Jahre alt, da er sich mit neuem<br />

Eifer auf philosophische und religiöse Studien wirft, nicht um etwas darüber<br />

zu veröffentlichen, nur um sich zur Klarheit durchzuringen. Die<br />

Gräfin sagt ihm einmal sehr hübsch, sie wisse nicht, woran er nicht glaube.<br />

Darauf erwidert er (April 1876) mit einem verzweifelten und schönen<br />

Geständnisse seiner Unklarheit. "So sonderbar und schrecklich es klingen<br />

mag (man übersehe nicht, daß er diese Worte rücksichtsvoll an eine sehr<br />

fromme Dame schreibt, die er herzlich lieb hat), ich glaube an nichts von<br />

alledem, was die Religion lehrt; und zugleich hasse und verachte ich nicht<br />

nur den Unglauben, sondern sehe sogar keine Möglichkeit, ohne Glauben<br />

zu leben, geschweige zu sterben ... Ich mit meinen Forderungen der Vernunft<br />

und mit den Antworten, welche die christliche Religion gibt, befinde<br />

mich in der Lage zweier Hände, die sich falten möchten, deren Finger<br />

sich aber gegeneinander stemmen." Er möchte sich wie ein Ertrinkender<br />

an die Religion anklammern, aber er versinkt mit dem Brette, kann sich<br />

zur Not nur ohne das Brett über Wasser halten. (Wir überspringen eine<br />

kurze entscheidende Zeit). Tolstoi ist fünfzig Jahre alt und glaubt immer<br />

noch ein Gleichgesinnter der frommen Gräfin zu sein, nur darum, weil<br />

auch ihm die Religion oder doch das religiöse Bedürfnis eine Sache von<br />

äußerster Wichtigkeit ist. Er gehört nicht zu den Spöttern, nicht einmal<br />

zu den Rationalisten; er lebt in der Selbsttäuschung, daß er ein metaphysisches<br />

Bedürfnis habe, aber er hat nur das religiöse Bedürfnis des<br />

einfachen Mannes, ohne dessen Einfalt des Glaubens. Da muß es endlich<br />

(seit Februar 1880) zu einer letzten gründlichen, selbstverständlich ehrlichen,<br />

zuletzt beinahe gröblichen Auseinandersetzung mit der alten Freundin<br />

kommen. Zartfühlend beginnt er damit, den strammen Kirchenglauben der<br />

Gräfin begreifen und schätzen zu wollen; seinen Kindern möchte er wünschen,<br />

Kirchengläubige zu sein, nicht Ungläubige, wie er einer war. Er<br />

versteht eine abergläubische Bäuerin, weniger vielleicht eine gebildete Frau,<br />

wie die Gräfin; vielleicht kann da ein denkender Mann eine denkende Frau<br />

nicht ganz verstehen. „Sehen Sie zu, ob das Eis, über das Sie schreiten,<br />

stark genug ist; ob Sie nicht versuchen sollen, es durchzuschlagen. Wenn<br />

das Eis bricht, ist es besser, auf festem Land zu stehen." Die Gräfin<br />

habe ihn weder zu belehren noch auszufragen. "Niemand kann sagen,<br />

woran er glaubt. Sie haben es nur darum sagen können, weil Sie wiederholt<br />

haben, was die Kirche sagt." Was ihm Christus sei? Wer das aussprechen<br />

wolle, der sage eine Gotteslästerung, eine Lüge, eine Dummheit.<br />

Lew N.Tolstoi 339<br />

Zwei Jahre später: „Um Christi willen, bekehren Sie mich nicht,<br />

bedauern Sie mich nicht. Ich habe schon zu oft erfahren, daß gerade diejenigen,<br />

die aus der Liebe zu Christus eine Profession machen, die Eintracht<br />

in seinem Namen verletzen." Und wieder: „Bitte, bekehren Sie<br />

mich nicht zum christlichen Glauben." Er wolle damit sagen, sie möchte<br />

ihm keine Unannehmlichkeiten machen. Auch für ihn gebe es etwas Heiliges.<br />

Ihre Bekehrungssucht sei für ihn schmerzlich und beleidigend.<br />

Endlich im Sommer 1887 wird es ganz klar, daß die Wege der beiden<br />

Freunde auseinandergehen, daß sie einander nur noch Lebewohl und<br />

Glückliche Reise wünschen können. Er sei der Duldsamere von beiden.<br />

Wie denn auch die Christen den Islam für eine Lüge erklären, der Islam<br />

jedoch die Lehre Christi zu schätzen wisse. Noch einmal kommt er mit seinem<br />

alten Einwurf: es sei gotteslästerlich zu glauben, Gott, der Gott der Liebe<br />

und der Gnade, habe ihn nur durch Opferung seines Sohnes erlösen können.<br />

Von da ab begegnen sich die beiden Freunde nur noch, wenn es gilt, an<br />

einem weltlichen Opfer des russischen Despotismus praktisches Christentum<br />

zu üben.<br />

Tolstoi war kein Heuchler, obgleich er in diesem Briefwechsel mit<br />

einer gewissen Herzenshöflichkeit die christelnde Sprache seiner Freundin<br />

noch etwas kirchlicher redet, als ihm natürlich war. Mit dem Unsterblichkeitsglauben<br />

spielt er nur, wie Goethe; seinen Gott sucht er ernsthaft,<br />

etwas anders als Goethe. "Goethe liebe ich gar nicht," schreibt er an die<br />

Gräfin (1891); „ich mag sein selbstbewußtes Heidentum nicht." In<br />

dem Beiworte liegt der Unterschied. Tolstoi war trotz seiner erbaulichen<br />

Schriften ebenfalls ein Heide, denn er war kein Christ, er wollte nicht<br />

Christ heißen. Nur war sein Heidentum nicht selbstbewußt, nicht klar;<br />

Tolstoi liebte Goethes Klarheit nicht, weil er sie nicht besaß. Die Gottlosigkeit<br />

Goethes war abendländisch; Tolstoi gehörte der orientalischen<br />

Welt an, der Traumwelt des Morgenlandes.<br />

Als alter Herr liebte er überhaupt nicht mehr, was er nicht besaß.<br />

Ich will es ganz rücksichtslos aussprechen: nicht nur sein Poltern gegen<br />

alle Erotik, sondern auch seine heftigen Ausbrüche gegen alle Kunst,<br />

gegen Shakespeare und Beethoven, dürften nebenbei einfach aus dem<br />

groben Sprichworte von der alten Betschwester zu erklären sein; so<br />

deute ich mir nämlich die merkwürdige Selbstanklage (S. 120): „Fürchte,<br />

daß mich das Thema Kunst, besonders in letzter Zeit, aus persönlichen,<br />

egoistischen, schlechten Gründen beschäftigt hat. Je m'entends." Es wäre<br />

nicht schön, aber e s wäre menschlich, wenn Tolstoi zum Schöpfer Himmels<br />

und der Erde geflüchtet wäre, als er k e i n e Kinder und keine Kunstwerke<br />

mehr hervorbringen konnte. Kein Mensch ist durch irgendeine abstrakte

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