Band 4 - m-presse
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152 Viertes Buch. Vierter Abschnitt<br />
Es scheint mir außer Zweifel, daß dieser antireligiöse Aufsatz die<br />
wahre Meinung Mills enthält, und daß die widerspruchsvollen Sätze<br />
der späteren Abhandlung über den "Theismus" nicht etwa seine letzte<br />
Überzeugung bringen, sondern einen Versuch, seinen Atheismus in einer<br />
Form vorzutragen, die bei der englischen respectability keinen Anstoß<br />
zu erregen brauchte. Mill war nicht geradezu, bekämpfte die metaphysischen<br />
Irrtümer der Menschheit nicht mit solcher Kraft wie die logischen,<br />
und darum blieb die Wirkung auf seine Landsleute und die übrigen Zeitgenossen<br />
aus. In religiösen Kämpfen wirkt nur entweder die Ekstase des<br />
Glaubens oder der Zorn des Unglaubens. Für Mill war aber die Religion<br />
gleichgültig geworden, weil er sie für sich selbst überwunden hatte; er<br />
analysierte ihre Begriffe fast nur wie zur Übung seiner Methode. Das<br />
ist auch dann fühlbar, wenn er sich für bestimmte theologische Sätze lebhafter<br />
zu interessieren scheint; so könnte man z.B. versucht sein, in einigen<br />
Stellen beider Abhandlungen ein Bekenntnis zu dem alten Zweigöttersysteme<br />
zu entdecken, zu der Manichäer Lehre von Gott und Teufel, die<br />
schon Pierre Bayle zum Kummer der Rechtgläubigen für unwiderleglich<br />
erklärt hatte; ich glaube aber, es war bei Bayle eine Bosheit des Zweiflers,<br />
bei Mill eine logische Spielerei des Indifferentismus.<br />
Mills Denken war eben nicht religiös gerichtet; nur die Form, nicht<br />
der Inhalt seines Gedankens war religiös: die Menschheit habe dem in<br />
seiner Macht beschränkten Gotte zu helfen und aus eigener Kraft sich<br />
in Wohlstand und Gesittung zu vervollkommnen. Es ist das fast schon<br />
positivistische Ideal von Goethes Faust: Wer immer strebend sich bemüht,<br />
den können wir erlösen. Nur daß der Gott Mills noch um einige Stufen<br />
menschlicher ist als der menschliche Gott Goethes; bei Mill ein ziemlich<br />
reicher und recht gutmütiger Onkel, der viel weiß und ganz geschickt ist;<br />
das Beste müssen wir aber selber tun, wenn etwas Gescheites aus der Welt<br />
werden soll.<br />
Mill hat mit seiner induktiven Logik siegreich und antichristlich gewirkt<br />
auf viele Wissenschaften, sogar auch auf die materialistische und positivistische<br />
Geschichtschreibung seit Buckle; auf dem Gebiete der Theologie konnte er<br />
nicht siegen, weil er wie ein Rennpferd war — ich weiß nicht, ob ich dessen<br />
äußerste Kraftanstrengung auch aus Ekstase oder Zorn erklären darf —,<br />
das vor dem schwierigsten Hindernisse ausbiegt; er "scheute" vor der englischen<br />
respectability.<br />
Dieser konservative Geist hinderte aber nicht, daß es Engländer waren,<br />
die wieder einmal die Führung des Abendlandes übernahmen, in der<br />
Psychologie und in dem Zweige der Biologie, der zu der besonderen Disziplin<br />
der Evolutionslehre erstarkt ist. Nominalismus und Empirismus ver<br />
Darwin 153<br />
banden sich in Charles Darwin (geb. 1809, gest. 1882) mit konservativer<br />
Rücksicht zu einem sehr bedeutenden Werke. Die von ihm aufgestellte<br />
Hypothese eines notwendigen Entstehens der Arten im Kampfe ums Dasein,<br />
durch das Überleben des Tüchtigsten und durch Anpassung, diese Hypothese<br />
gilt heute der Erfahrungswissenschaft bereits für veraltet; es bleibt<br />
aber dennoch ein Ereignis, daß sie aufgestellt werden konnte. Die meistgenannten<br />
Vorgänger von Darwin (die Verdienste des Großvaters Erasmus<br />
Darwin beruhen fast nur auf der Forderung einer physiologischen<br />
Psychologie), Lamarck und Goethe, hatten nur die Ahnung von einer<br />
Formenverwandtschaft aller Tiere ausgesprochen und es offen gelassen, ob<br />
sie Einsicht gewonnen hatten in den Plan des Schöpfers oder der Natur;<br />
sie wollten die Morphologie vereinfachen. Erst Darwin tilgte die Vorstellung<br />
eines Planes oder einer Absicht bei einem Schöpfer, ja, er tilgte<br />
sogar, mit vorsichtigen Andeutungen, jede Zweckvorstellung in der Natur.<br />
Gott wurde nicht ausdrücklich geleugnet, aber der teleologische Gottesbeweis,<br />
der Lieblingsbeweis des vorausgegangenen Jahrhunderts, wurde<br />
zu dem Moderhaufen der anderen Gottesbeweise geworfen. Der Begriff<br />
Schöpfung wurde durch den Begriff Evolution ersetzt.<br />
In seinem Vaterlande hat Darwin oft Anstoß erregt durch seine<br />
Hypothesen, fast niemals durch seine Worte; er schonte die englischen Vorurteile<br />
und war pedantisch vorsichtig im Ziehen seiner Schlüsse; er überließ<br />
es seinen Nachahmern (der philosophisch bedenklichste unter ihnen war<br />
Ernst Haeckel), den Darwinismus zu einem materialistischen System auszubauen,<br />
das dann sehr rasch auch über Geisteswissenschaften ausgedehnt<br />
wurde. Ernsthafter als Haeckel ist die Enzyklopädie, übrigens ebenfalls<br />
System genannt, die Herbert Spencer (geb. 1820, gest. 1903) mit dem Spencer<br />
eisernen Fleiße von Comte, doch ohne dessen genialische und wahnsinnige<br />
Züge, seit 1860 herausgab. Das Bild von einer „Evolution" hatte er schon<br />
vor Darwin gebraucht. Auch Spencer nimmt noch einige Rücksicht auf die<br />
Denkgewohnheiten der Engländer; es ist offenbar, daß er den wohlbekannten<br />
Gott als die erste Ursache der Evolution nicht meinen kann, doch er redet<br />
noch viel über diese erste Ursache und auch über das Absolute. Übrigens<br />
hat Spencer den Grundgedanken aller neuen englischen freethinkers,<br />
daß wir nämlich das Übersinnliche niemals erkennen werden, durch sein<br />
Lebenswerk wesentlich gefördert, wenn auch das Schlagwort Agnostizismus<br />
nicht von ihm herstammt, sondern von Henry Huxley, der es 1869<br />
zuerst gebrauchte, um in einer Verteidigung Darwins die materialistische<br />
Weltansicht zwar durchaus nicht als die richtige, aber als die einzig fruchtbare<br />
(für das Leben) hinzustellen. Spencer blieb sich selbst nicht ganz treu;<br />
er, der vielleicht erst durch Auguste Comte zu seinem großen Werke