Band 4 - m-presse
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406<br />
Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />
Gebrechlichkeit der Menschennatur willen nicht, die alte Religion auf einmal<br />
abzuschaffen; man sollte sie besser allmählich auslöschen lassen. Diese<br />
Arbeit habe inzwischen schon der Pantheismus geleistet, trotz seiner Denkfehler,<br />
der arge pessimistische und der etwas bessere optimistische Pantheismus.<br />
Schopenhauer kann die Religion der Zukunft nicht bieten. Man<br />
kann lebensmüde werden, niemals aber erkenntnismüde. Und mit Hypothesen<br />
ist schon gar nichts anzufangen, weder mit der absurden Hypothese<br />
des Materialismus (denn es gibt keine tote Materie), noch mit den verschiedenen,<br />
immer unbewiesenen Hypothesen des Idealismus, des subjektiven<br />
oder des (?) objektiven. Das erlösende Wort glaubt Guyau zu<br />
finden in seinem eigentümlichen Monismus, der nicht dem Dualismus<br />
von Körper und Geist entgegengesetzt wird, als ein Monismus des Seins,<br />
sondern ein Monismus des Werdens, eben der einen und unteilbaren<br />
Evolution. „Das Leben entwickelt sich zugleich zum Empfinden und zum<br />
Denken." Wer weiß, ob die Entwicklung es nicht einmal (früher oder<br />
später) dazu bringen kann, was man die Götter genannt hat; wir stehen<br />
vielleicht noch nicht auf der obersten Stufe des Lebens, des Denkens, des<br />
Liebens. Fast wie manche Scholastiker am Ausgang des Mittelalters<br />
ruft Guyau, diese seine religiöse Lehre sei wohl überwissenschaftlich, aber<br />
nicht widerwissenschaftlich (einst unterschied man zwischen: übervernünftig<br />
und widervernünftig). Nicht nur nichts Menschliches ist dem wahrhaft<br />
Weisen fremd, nein, nichts, was wird, ist ihm fremd. Die Götter waren in<br />
den Menschen, die Menschen in den Tieren, die Tiere in der Pflanze und<br />
im Anorganischen; das alles nicht im Sein, sondern im ewigen Werden.<br />
In diesem monistischen Naturalismus ist kein Platz für Zwecke oder Absichten<br />
eines Schöpfers, vielleicht aber für einen Aufschwung zu der dichterischen<br />
Vorstellung: Unsterblichkeit.<br />
Man sieht, daß Guyau mit der Aufstellung des Begriffs einer Mythologie<br />
der Naturwissenschaften sich nahe mit dem berührt, was ich Mystik<br />
nenne, daß er mit seiner positivistischen Entwicklungslehre sogar tiefer<br />
schürft, daß er aber mit seinen letzten Phantasien — die eher poetisch als<br />
wissenschaftlich sind — doch die Gottlosigkeit dieser Mystik wieder preisgibt.<br />
Neuerdings (1920) hat Leopold Ziegler (geb. 1881), ein eklektischer<br />
und sprachmeisternder Schüler von Ed. von Hartmann und von Nietzsche,<br />
von Guyau und vielleicht auch schon (stilistisch) von Spengler, dankbare<br />
Leser gefunden mit seinem unklar betitelten Buche "Gestaltwandel<br />
der Götter". Es ist nicht eben leicht, sich in die 562 großen Seiten<br />
des Werkes hineinzulesen; langsam kommt aber doch heraus, daß der<br />
Verfasser ein Freier ist, dem es tapferer Ernst ist um die Mythologie der<br />
Wissenschaft sowohl als um die Mythologie der Religionen. Sehr lesens<br />
Leopold Ziegler 407<br />
wert ist vor allem die fünfte Betrachtung: "Der Mythos Atheos der<br />
Wissenschaften". Überall Wasser auf meine Mühle: der gründliche Nachweis,<br />
daß die Grundbegriffe der mechanistischen Wissenschaften, die sich<br />
selbst für Welterklärungen halten, nur Mythologien sind über die Wörter<br />
oder Götter: Masse, Bewegung, Stoff, Atom usw. (Sehr schön eine bei<br />
aller Bewunderung doch überzeugende Ablehnung der Lutherschen Reformation.)<br />
Dann aber kommt die sechste Betrachtung, und der Verfasser verfällt,<br />
obgleich dieser Abschnitt „Die Mysterien der Gottlosen" überschrieben ist,<br />
wieder dem Zauber eines Wortes, des Gottesbegriffs. Ich kann es nicht<br />
genug rühmen, daß Ziegler den Forderungen der Kirchen an keiner Stelle<br />
Konzessionen macht. Die Hypothese „Gott" habe im Bereich der Wissenschaften<br />
jede Geltung eingebüßt; freilich nicht anders als die anderen<br />
Hypothesen der Naturerklärung; wir entgehen nirgends der Irrationalität<br />
des Rationalen, die neuerdings Müller-Freienfels so gründlich und frei<br />
untersucht hat. Die Gefahr bestehe, daß wir in dieser Verzweiflung an einer<br />
befriedigenden Wissenschaft nach den früheren Göttern ausblicken; aber<br />
„von allen Wiederkünften der Geschichte wäre keine menschenschänderischer<br />
als diese, die Gottes Reich und Herrlichkeit zum zweitenmal auf der<br />
Schädelstätte der Vernunft aufzurichten sich unterfinge" (S.483). Die<br />
atheistische Fassung und Verfassung des wissenschaftlichen Mythos sei die<br />
einzige uns selbst anstehende und anständige (S. 484) ; unmittelbar darauf,<br />
S. 487, beruft sich Ziegler auf Guyau. Trotzdem sollen die Menschen,<br />
welche dem Gotte und den Göttern den Laufpaß gegeben haben, die<br />
Religion nicht verschwören, und nicht — den Gott im Menschen. „Es<br />
lebe der Mensch-Gott." Also doch wieder: die Religion, d. h. die Selbstbesinnung,<br />
nicht ganz ohne Gott. Und das darum, weil Ziegler von den<br />
alten, in unserer Sprache fast nicht mehr aussagbaren Gegensätzen der<br />
Christlichkeit nicht loskommt: Opfer und Wiedergeburt, Schöpfung und<br />
Erlösung, Verschuldung und Entsühnung. Er christelt nicht durch Weltverneinung;<br />
er sagt Ja, allzu beredt beinahe, nicht nur zu der einmaligen<br />
Welt, er sagt Ja zu der Seelenwanderung des Buddhismus und sogar zu<br />
Nietzsches verkehrt aufgerollter Wiederkehr des Gleichen. Er hat dafür<br />
ein hübsches Wort: „Erlösung nicht von, Erlösung zu der Welt." Trotz<br />
alledem, trotz einer Sprache, die Sprüche macht, bleibt mir Ziegler ein<br />
guter Eideshelfer in meinem Prozesse gegen die, die jeden kritischen<br />
Kopf der lieblosen Negation beschuldigen. Einig sind wir darin, daß wir<br />
beide — gegen den Materialismus — den Mythos Atheos der Wissenschaften<br />
durchschaut haben, daß wir beide zum Aufbau unseres Kosmos,<br />
unseres Mythos der Religion — im ganz wachen Zustande — keines