Band 4 - m-presse
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342 Viertes Buch. Neunter Abschnitt<br />
drückt die Blasphemien, zu denen er im Tagebuche durch sein Nachdenken<br />
verführt worden ist. Er denkt für die armen Russen nicht ganz so frei wie<br />
für sich selber. Ich gebe einige Proben aus seiner Abhandlung über die<br />
Religion und aus den Gedanken über Gott; beide Aufsätze sind im ersten<br />
<strong>Band</strong>e von Tolstois "Religiös-ethischen Flugschriften" (Verlag von Eugen<br />
Diederichs) zu finden.<br />
Religion Tolstoi teilt nicht die Meinung der ganzen befreiten Welt, daß die<br />
Religion sich nämlich überlebt habe, daß die Zeit des Positivismus angebrochen<br />
sei; nach seiner Meinung ist die wahre Religion, im Einklang<br />
mit der Vernunft, die Beziehung des einzelnen Menschen zum Unendlichen.<br />
Alle geschichtlichen Religionen, besonders aber die der christlichen Kirche,<br />
waren Fälschungen; aus Empörung darüber will unsere Zeit gar nichts<br />
mehr glauben. Die Ruchlosigkeit der Priester war zu arg, die Unterwürfigkeit<br />
des Volkes zu schrecklich. Wenn irgendein gewöhnlicher Unternehmer<br />
heute einen Teich mit Menschenblut füllen wollte, damit reiche Leute darin<br />
baden könnten, so wäre das ohne despotische Mittel auszuführen; man<br />
müßte nur die Armen durch Hunger zur Hergabe ihres Blutes zwingen, die<br />
Gelehrten veranlassen, den Nutzen der Sache zu beweisen, und die Geistlichkeit<br />
einladen, den Teich kirchlich einzuweihen. Wie selbstverständlich<br />
gelangt Tolstoi so aus der Religion zur Politik, zu der alten Lehre der<br />
Wiedertäufer, die sich heute ungefähr mit dem Anarchismus deckt: ein glückseliges<br />
Dasein ohne Staat und ohne Krieg. Weitere Angriffe richten sich<br />
gegen alle Philosophen: von Bacon bis Nietzsche. Unsere ganze Kultur<br />
befinde sich unter der Suggestion einer lügenhaften Wissenschaft und einer<br />
lügenhaften Religion; besonders die Dogmen der sogenannten christlichen<br />
Religion werden in der härtesten Weise verworfen. Daneben aber gebe<br />
es eine wahre Religion. Man wird an die Bemühungen erinnert, mit<br />
denen Locke genau zweihundert Jahre vorher die gemeinsamen Grundlagen<br />
einer vernünftigen Uroffenbarung suchte, wenn Tolstoi die gemeinsamen<br />
Fundamente des Christentums, des Judentums und des Islam,<br />
des Brahmaismus, des Buddhismus und des Taoismus für die wahre<br />
Religion erklärt. (Daß die Buddhisten eigentlich Atheisten waren, tue nichts<br />
zur Sache; auch ihnen war das Eingehen in Nirwana eine Versenkung in<br />
den Urquell, also in Gott.) Man solle nicht sagen, das Gemeinsame aller<br />
dieser Lehren sei eher Weisheit als Religion; Unvernünftigkeit gehöre<br />
nicht zur Religion: wir sind nur „so daran gewöhnt worden, einzig und<br />
allein faule Äpfel zu kennen, daß wir nicht mehr wissen, wie ein gesunder<br />
Apfel schmeckt und bekömmt. Es ist schwer, in solcher Zeit nicht entweder<br />
dem Aberglauben oder dem absoluten Zweifel zu verfallen; der wahrhaft<br />
religiöse Mensch findet aber den Ausweg."<br />
Lew N. Tolstoi 343<br />
Diese Abhandlung über die Religion ist eigentlich ein politisches Manifest<br />
und wird (wenigstens in der deutschen Ausgabe) durch einen schönen<br />
Aufruf zur Gewissensfreiheit ergänzt. Fast unpolitisch, soweit das für<br />
Tolstoi möglich war, sind dagegen die "Gedanken über Gott", Aphorismen, Gott<br />
die Tolstoi vielleicht gar nicht selbst gesammelt hat, in denen der gottlose<br />
Gottsucher mit dem Unbekannten ringt, von dem er sich abhängig fühlt<br />
wie ein Säugling von der Mutter; Bilder, Gleichnisse in Fülle, und dennoch<br />
(oder: und darum) keine Klarheit.<br />
Gott ist, aber ich kenne ihn nicht, ich kenne nur die Richtung zu ihm;<br />
ich verliere die Richtung, ich entferne mich von ihm, wenn ich mir einzubilden<br />
versuche, daß ich ihn erkenne. Sage mir, was das Leben ist, und ich<br />
werde dir sagen, was Gott ist. Der Weltschöpfer ist er nicht. Der Zweifel<br />
an seinem Dasein ist nicht schädlich. Zu Gott muß man wider seinen Willen<br />
getrieben werden; wie wenn einer ein bestimmtes Weib nicht heiraten<br />
will, aber nicht anders kann. Gott ist die Liebe und ist so unerklärlich wie<br />
die Liebe. "Ihr sagt, daß ich Gott nicht anzuerkennen scheine. Das ist<br />
ein Mißverständnis. Ich erkenne nichts außer Gott an." Und wieder<br />
könnte ich leicht zeigen, daß hinter diesem mystischen Pantheismus, bei<br />
welchem Tolstoi sich zu beruhigen scheint, nichts als die niedliche Tautologie<br />
steckt: das All ist das All.<br />
Ich kenne die russische Seele nicht, die sogenannte Volksseele. Ich<br />
kann es darum nur als eine Vermutung aussprechen, nicht begründen,<br />
daß der unklar pazifistische Kommunismus, den Tolstoi — wie die französische<br />
Romantik — für die wahre Religion Jesu hielt, in der neuesten<br />
russischen Revolution nachgewirkt hat, in der der Meistforderer, der Bolschewiki.<br />
Die deutsche „Revolution" von 1918, eher ein Zusammenbruch als<br />
eine bewußte politische Tat, richtete sich nicht gegen die Schöpfung Bismarcks,<br />
nicht also gegen die endliche Zusammenraffung Deutschlands zur<br />
Einheit, nur gegen den Theaterbau Wilhelms; die russische Revolution<br />
machte dem Cäsaropapismus in Rußland ein Ende.<br />
Der Terror, der sich jetzt Bolschewismus nennt, ist immer geneigt,<br />
den lieben Gott "abzuschaffen" oder — weil doch ein Gedankending nicht<br />
einfach vernichtet werden kann — die Bekenner des Gottes umzubringen.<br />
In der französischen Schreckenszeit sind eine Zeitlang, bevor nämlich der<br />
Theist Robespierre über Hébert siegte, viele Leute hingerichtet worden,<br />
nur weil sie Christen o d e r überhaupt gottgläubig waren. Einer der theoretischen<br />
Väter des Bolschewismus, der rücksichtslos konsequente Bakunin,<br />
hat denn auch gesagt, die Existenz Gottes sei unvereinbar mit dem<br />
Glücke, mit der Würde, mit der Vernunft, der Moral und der Freiheit<br />
der Menschen.