29.10.2013 Aufrufe

Band 4 - m-presse

Band 4 - m-presse

Band 4 - m-presse

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

128<br />

Viertes Buch. Dritter Abschnitt<br />

Die Niederlagen und viel mehr die Franzosen selbst bringen ihn zur<br />

Verzweiflung; noch mehr als sonst hat er den gemeinen Arbeiter satt, den<br />

tölpelhaften Bourgeois, den dummen Bauer und den verhaßten Geistlichen.<br />

Er kann mit keinem Menschen mehr sprechen und über nichts mehr. Er<br />

stürzt sich in die Arbeit an seiner "Versuchung des heiligen Antonius", den<br />

er ja anstatt durch schöne Frauenformen durch sämtliche Religionsformen<br />

der Welt belästigen läßt; er möchte dem Buche den Untertitel geben:<br />

„Gipfel des Blödsinns".<br />

Flaubert, der kein ausdrücklich philosophisches Buch geschrieben hat,<br />

ist ein kritischer Denker; er weiß oft selbst nicht, wie tief er in die Einsicht<br />

des Nichtwissenkönnens eingedrungen ist; und so oft ihm das Bewußtsein<br />

seiner Überlegenheit kommt, muß er tragisch wirken auf jeden Leser, der<br />

ihn liebt. Er verkehrt in Paris mit Taine, aber Taines Historismus scheint<br />

ihm ebenso töricht wie der Grammatizismus etwa von la Harpe. Er studiert<br />

Kant und Hegel, aber sie verdummen ihn und er kehrt mit Heißhunger zu<br />

Spinoza zurück.<br />

Er schätzt den "Antichrist" von Renan und hat nur, der Meister des<br />

Stils, einige sprachliche Bedenken. Und wie im Denken so ist er auch im<br />

Leben. Da die Sand ihn mit dem Verleger Lévy aussöhnen will, wird er<br />

zornig: "Je ne suis pas Chrétien, et l'hypocrisie du pardon m ' e s t impossible."<br />

Über die Kirche spricht er in dem Sinne und oft mit den Ausdrücken<br />

Voltaires.<br />

Da er sich drei Jahre nach dem Kriege an sein Buch "Bouvard et<br />

Pécuchet" macht, diese schwer zugängliche Enzyklopädie des Skeptizismus,<br />

wird seine Stimmung noch düsterer; mit unbesiegbarer Melancholie<br />

zweifelt er wie ein Pyrrhoniker des Altertums an allem und auch an seinem<br />

Buche. "Niemand versteht mich, ich bin von einer anderen Welt . . . Als<br />

ob ich eine grenzenlose Einöde durchquerte und wanderte, ich weiß nicht<br />

wohin. Und ich, ja ich bin gleichzeitig die Wüste, der Reisende und das<br />

Kamel." Langsam erstirbt das prachtvolle Lachen seiner früheren Kraft;<br />

aber nur noch wilder bäumt er sich gegen alles auf, was mit der Kirche<br />

zusammenhängt. Schon der ganze Anatole France, aber ohne die heitere<br />

Voltairesche Resignation seines unfeierlichen Schülers. „Das 19. Jahrhundert<br />

wird alle Religionen untergehen sehen. Amen! Ich werde<br />

keiner nachweinen." Er wiederholt das Wort von Littré, daß der Mensch<br />

ein labiles Ding und die Erde ein schlechter Planet sei; er sehnt sich nach<br />

dem Tode.<br />

Zola Von Flaubert zu Zola ist nur ein Schritt, wie von einer neuen Erfindung<br />

zur Ausbeutung dieser Erfindung, von einer neuen Richtung zur<br />

Organisation einer Schule. Noch unchristlicher, noch gottloser als das<br />

Zola 129<br />

Leben war im Zeitalter der Industrie das Schrifttum geworden, die wissenschaftliche<br />

Literatur nicht ganz so wie die, die man die schöngeistige zu nennen<br />

pflegt. Daß die Wissenschaft sich für immer von der Theologie getrennt<br />

hatte, war auch in Frankreich für jedes Auge klar geworden; es wäre bloß<br />

hervorzuheben, daß diese Trennung sich im Laufe von ungefähr drei Jahrhunderten<br />

langsam vollzogen hatte; wenigstens die Geisteswissenschaften<br />

brauchten so lange, um frei zu werden. Geschichtliche und moralische<br />

Schriften, ja sogar viele naturwissenschaftliche Untersuchungen mußten<br />

im 17. Jahrhundert an die Kirche anknüpfen, im 18. an den Gott des<br />

Deismus, wenn sie nicht Anstoß erregen wollten. Dramen und Romane<br />

begnügten sich schon damals mit einer gelegentlichen Verbeugung vor<br />

irgendeiner Gottheit. Seit 1870 lag die Sache so, daß die ungeheure<br />

Masse der schönen, besonders der Unterhaltungsliteratur so geschrieben<br />

wurde, als ob der christliche Glaube bereits der Vergangenheit angehörte;<br />

Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Und die Zeitungen und<br />

Zeitschriften, wenn man von den kirchlichen absieht, wußten nichts mehr<br />

vom Glauben, es wäre denn, daß an hohen Festtagen ein dünner Aufguß<br />

von Frömmigkeit von der guten Sitte gefordert wurde. Man hat<br />

dafür oft die starke Beteiligung von Schriftstellern jüdischer Abstammung<br />

verantwortlich gemacht, mit Unrecht oder mit Übertreibung; das<br />

Publikum hält sich allgemein an Romane, Zeitungen und Zeitschriften,<br />

die seinem Geschmacke nicht rückständig, nicht fromm, nicht langweilig<br />

erscheinen.<br />

In diesem Zusammenhange — mag man mir vorwerfen, daß<br />

ich wieder abgeschweift bin — wäre noch ein Wort zu sagen über den<br />

vermeintlichen Unterschied zwischen der katholischen und der protestantischen<br />

Literatur. Wohlgemerkt: in Deutschland; was man da vorzubringen<br />

pflegt, daß nämlich das protestantische Deutschland auf dem<br />

Büchermarkte eine unverhältnismäßige Herrschaft ausübe, das ist schief<br />

gesehen und falsch beobachtet. Es gilt natürlich nicht für die romanischen<br />

Länder, aber auch nicht für England und Rußland. Doch selbst in Deutschland<br />

liegt die Sache wohl so, daß die Bücher, die dem Protestantismus<br />

dienstbar sind, im allgemeinen ebensowenig gelesen werden wie die Bücher<br />

mit katholischer Tendenz. Nur daß katholische Schriftsteller häufiger die<br />

Neigung haben, sich zu ihrer ererbten Religion zu bekennen, daß die<br />

Schriftsteller protestantischer Herkunft meistens Indifferentisten sind,<br />

außerhalb der Kirche stehen, wie das die Selbstzersetzung des Protestantismus<br />

mit sich gebracht hat. Nicht also der Protestantismus beherrscht den<br />

deutschen Büchermarkt, sondern der aus dem Protestantismus hervorgegangene<br />

Indifferentismus.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!