Band 4 - m-presse
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Viertes Buch. Dritter Abschnitt<br />
Die Niederlagen und viel mehr die Franzosen selbst bringen ihn zur<br />
Verzweiflung; noch mehr als sonst hat er den gemeinen Arbeiter satt, den<br />
tölpelhaften Bourgeois, den dummen Bauer und den verhaßten Geistlichen.<br />
Er kann mit keinem Menschen mehr sprechen und über nichts mehr. Er<br />
stürzt sich in die Arbeit an seiner "Versuchung des heiligen Antonius", den<br />
er ja anstatt durch schöne Frauenformen durch sämtliche Religionsformen<br />
der Welt belästigen läßt; er möchte dem Buche den Untertitel geben:<br />
„Gipfel des Blödsinns".<br />
Flaubert, der kein ausdrücklich philosophisches Buch geschrieben hat,<br />
ist ein kritischer Denker; er weiß oft selbst nicht, wie tief er in die Einsicht<br />
des Nichtwissenkönnens eingedrungen ist; und so oft ihm das Bewußtsein<br />
seiner Überlegenheit kommt, muß er tragisch wirken auf jeden Leser, der<br />
ihn liebt. Er verkehrt in Paris mit Taine, aber Taines Historismus scheint<br />
ihm ebenso töricht wie der Grammatizismus etwa von la Harpe. Er studiert<br />
Kant und Hegel, aber sie verdummen ihn und er kehrt mit Heißhunger zu<br />
Spinoza zurück.<br />
Er schätzt den "Antichrist" von Renan und hat nur, der Meister des<br />
Stils, einige sprachliche Bedenken. Und wie im Denken so ist er auch im<br />
Leben. Da die Sand ihn mit dem Verleger Lévy aussöhnen will, wird er<br />
zornig: "Je ne suis pas Chrétien, et l'hypocrisie du pardon m ' e s t impossible."<br />
Über die Kirche spricht er in dem Sinne und oft mit den Ausdrücken<br />
Voltaires.<br />
Da er sich drei Jahre nach dem Kriege an sein Buch "Bouvard et<br />
Pécuchet" macht, diese schwer zugängliche Enzyklopädie des Skeptizismus,<br />
wird seine Stimmung noch düsterer; mit unbesiegbarer Melancholie<br />
zweifelt er wie ein Pyrrhoniker des Altertums an allem und auch an seinem<br />
Buche. "Niemand versteht mich, ich bin von einer anderen Welt . . . Als<br />
ob ich eine grenzenlose Einöde durchquerte und wanderte, ich weiß nicht<br />
wohin. Und ich, ja ich bin gleichzeitig die Wüste, der Reisende und das<br />
Kamel." Langsam erstirbt das prachtvolle Lachen seiner früheren Kraft;<br />
aber nur noch wilder bäumt er sich gegen alles auf, was mit der Kirche<br />
zusammenhängt. Schon der ganze Anatole France, aber ohne die heitere<br />
Voltairesche Resignation seines unfeierlichen Schülers. „Das 19. Jahrhundert<br />
wird alle Religionen untergehen sehen. Amen! Ich werde<br />
keiner nachweinen." Er wiederholt das Wort von Littré, daß der Mensch<br />
ein labiles Ding und die Erde ein schlechter Planet sei; er sehnt sich nach<br />
dem Tode.<br />
Zola Von Flaubert zu Zola ist nur ein Schritt, wie von einer neuen Erfindung<br />
zur Ausbeutung dieser Erfindung, von einer neuen Richtung zur<br />
Organisation einer Schule. Noch unchristlicher, noch gottloser als das<br />
Zola 129<br />
Leben war im Zeitalter der Industrie das Schrifttum geworden, die wissenschaftliche<br />
Literatur nicht ganz so wie die, die man die schöngeistige zu nennen<br />
pflegt. Daß die Wissenschaft sich für immer von der Theologie getrennt<br />
hatte, war auch in Frankreich für jedes Auge klar geworden; es wäre bloß<br />
hervorzuheben, daß diese Trennung sich im Laufe von ungefähr drei Jahrhunderten<br />
langsam vollzogen hatte; wenigstens die Geisteswissenschaften<br />
brauchten so lange, um frei zu werden. Geschichtliche und moralische<br />
Schriften, ja sogar viele naturwissenschaftliche Untersuchungen mußten<br />
im 17. Jahrhundert an die Kirche anknüpfen, im 18. an den Gott des<br />
Deismus, wenn sie nicht Anstoß erregen wollten. Dramen und Romane<br />
begnügten sich schon damals mit einer gelegentlichen Verbeugung vor<br />
irgendeiner Gottheit. Seit 1870 lag die Sache so, daß die ungeheure<br />
Masse der schönen, besonders der Unterhaltungsliteratur so geschrieben<br />
wurde, als ob der christliche Glaube bereits der Vergangenheit angehörte;<br />
Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Und die Zeitungen und<br />
Zeitschriften, wenn man von den kirchlichen absieht, wußten nichts mehr<br />
vom Glauben, es wäre denn, daß an hohen Festtagen ein dünner Aufguß<br />
von Frömmigkeit von der guten Sitte gefordert wurde. Man hat<br />
dafür oft die starke Beteiligung von Schriftstellern jüdischer Abstammung<br />
verantwortlich gemacht, mit Unrecht oder mit Übertreibung; das<br />
Publikum hält sich allgemein an Romane, Zeitungen und Zeitschriften,<br />
die seinem Geschmacke nicht rückständig, nicht fromm, nicht langweilig<br />
erscheinen.<br />
In diesem Zusammenhange — mag man mir vorwerfen, daß<br />
ich wieder abgeschweift bin — wäre noch ein Wort zu sagen über den<br />
vermeintlichen Unterschied zwischen der katholischen und der protestantischen<br />
Literatur. Wohlgemerkt: in Deutschland; was man da vorzubringen<br />
pflegt, daß nämlich das protestantische Deutschland auf dem<br />
Büchermarkte eine unverhältnismäßige Herrschaft ausübe, das ist schief<br />
gesehen und falsch beobachtet. Es gilt natürlich nicht für die romanischen<br />
Länder, aber auch nicht für England und Rußland. Doch selbst in Deutschland<br />
liegt die Sache wohl so, daß die Bücher, die dem Protestantismus<br />
dienstbar sind, im allgemeinen ebensowenig gelesen werden wie die Bücher<br />
mit katholischer Tendenz. Nur daß katholische Schriftsteller häufiger die<br />
Neigung haben, sich zu ihrer ererbten Religion zu bekennen, daß die<br />
Schriftsteller protestantischer Herkunft meistens Indifferentisten sind,<br />
außerhalb der Kirche stehen, wie das die Selbstzersetzung des Protestantismus<br />
mit sich gebracht hat. Nicht also der Protestantismus beherrscht den<br />
deutschen Büchermarkt, sondern der aus dem Protestantismus hervorgegangene<br />
Indifferentismus.