29.10.2013 Aufrufe

Band 4 - m-presse

Band 4 - m-presse

Band 4 - m-presse

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

244 Viertes Buch. Siebenter Abschnitt<br />

in dem Unglücklichsein liege oft ein wunderbarer Segen; es werde viel<br />

besser mit ihm werden. Ein armes Weib, das das Leben nicht länger ertragen<br />

kann; das noch im Tode zu gütig ist, ihrem Manne die Lebenslüge<br />

zu stören.<br />

Gutzkow schrieb bald darauf in einem Zeitungsaufsatze: „Seit dem Tode<br />

des jungen Jerusalem und dem Morde Sands ist in Deutschland nichts<br />

Ergreifenderes geschehen, als der Tod der Gattin des Dichters Heinrich<br />

Stieglitz. Wer das Genie Goethes besäße und es aushalten könnte, daß man<br />

von Nachahmung sprechen würde, könnte hier ein Seitenstück zum Werther<br />

geben." Er glaubte wahrscheinlich selbst nachher, sein Roman "Wally"<br />

wäre ein Seitenstück zum Werther, und verteidigte seine Jugendarbeit<br />

noch als reifer Mann just gegen die ästhetischen Einwürfe; es war aber nur<br />

eine Reihe schlechter Novellenfragmente, um eine religionsphilosophische<br />

Abhandlung herum geschrieben. Ich glaube mich an den Wiederabdruck<br />

von 1852 halten zu dürfen, weil der Verfasser da in der Vorrede versichert,<br />

er habe das Korpus delikti zur Bequemlichkeit der Neugierigen neu herausgegeben<br />

und "nur einige wenige unwesentliche Dinge geändert". Gutzkow<br />

nennt da wieder Charlottens Tod die Veranlassung seines Buches, scheint<br />

sich für einen Vorgänger von Ruge und Feuerbach zu halten und mischt<br />

(in der Vorrede fast noch mehr als in dem Romane) die Stile von Jean<br />

Paul und George Sand, von Heine und Börne durcheinander.<br />

Die eigentliche Fabel ist einer ausführlichen Wiedergabe nicht wert:<br />

Wally schließt so etwas wie eine übersinnliche Ehe (das matrimonium ist<br />

weder ratum noch consumatum noch consecratum) mit dem blasierten<br />

Skeptiker Cäsar; sie bleibt ihm treu und heiratet einen schurkischen italienischen<br />

Diplomaten; sie lebt in Paris und erduldet Gräßlichkeiten; Cäsar<br />

entführt sie nun, und sie hausen zusammen; eine reiche Jüdin tritt<br />

dazwischen, und Cäsar heiratet die reiche Jüdin; Wally kann ohne Religion<br />

und ohne den Freidenker Cäsar nicht weiter leben; sie sticht sich einen<br />

Dolch ins Herz. Goethes "Werther" schließt mit den Worten: "Handwerker<br />

trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet." Gutzkows Seitenstück<br />

schloß tendenziös: "Sie wurde mit Gepränge bestattet. Die, welche<br />

am Grabe standen, beweinten nicht sie selbst, sondern ihre Jugend."<br />

Aber die Freigeisterei, daß man die Selbstmörderin nicht beweine,<br />

war nur eine Nebentendenz des Romans. Die Hauptsache blieb der Angriff<br />

auf die Kirche. Daß Gutzkow auf die Denunziation Menzels bald darauf<br />

(in seiner „Appellation an den gesunden Menschenverstand") leugnete,<br />

Staat oder Kirche beleidigt zu haben, daß er behauptete, er wollte demnächst<br />

den Glauben schildern, wie er in der Wally den Zweifel geschildert<br />

hätte, daß er sich sogar, um auf die Richter günstig zu wirken, einige Redens­<br />

Gutzkows "Wally" 245<br />

arten abpreßte (von quellenden Tränen beim Klange der Orgel, von Sterbenden,<br />

die das Bild des Heilands mit erblassenden Lippen küssen), das<br />

wird ihm niemand übelnehmen, der eine ähnliche Vorsicht bei fast allen<br />

älteren Freidenkern beobachtet hat. Ich werde auf diesen Kampf zwischen<br />

dem Denunzianten Menzel und dem Journalisten Gutzkow noch eingehend<br />

zurückkommen. Schlimmer als die bewußte Vorsicht des bedrohten Gutzkow<br />

scheint mir die unklare Vorsicht, mit der er schon beim Niederschreiben<br />

des Romans seine Heldin dargestellt hatte; als ob er sich mildernde Umstände<br />

sichern wollte. Aber diese Unklarheit ist eben — fast hätte ich „leider"<br />

gesagt — keine Verstellung, keine Verlogenheit. Was uns heute, noch nicht<br />

drei Generationen später, auf die Nerven fällt, nicht nur in der „Wally",<br />

sondern auch bei der atheistischen Religionsspielerei Heines, das war ja<br />

eben damals das wirre Ideal, das unter dem Namen des Saintsimonismus<br />

die besten Köpfe und die biedersten Herzen des jungen Europa erfüllte:<br />

die freie Reaktion der Volksfreunde gegen den Rationalismus der großen<br />

Revolution und gegen den Blutrausch der napoleonischen Kriegszeit; die<br />

tyrannische Reaktion der Heiligen Alliance strebte nach einer Rückkehr zu<br />

der Kirche und zu dem Staate des Mittelalters, diese freie Reaktion war<br />

nicht ganz ohne Neigung zu einer mittelalterlichen Romantik, aber alles<br />

sollte neue Gestalt gewinnen: Religion, Nationalität, Gesellschaft. Wir<br />

haben ja schon gesehen, wie diese frei-reaktionäre Bewegung des Saintsimonismus<br />

in Frankreich auseinanderging: in den eigentlichen Sozialismus und<br />

in die Sehnsucht nach einem reformierten, volksbeglückenden Katholizismus,<br />

wie beide Richtungen in den letzten Zielen des Positivismus zusammenflossen.<br />

Wir werden noch sehen, wie die deutschen Regierungen (d. h. die<br />

Agenten Metternichs) das junge Deutschland verfolgten und hetzten, weil sie<br />

eine Witterung von dem Zusammenhange hatten, der zwischen den politischen,<br />

sozialen und literarischen Bestrebungen des jungen Europa bestand.<br />

Ein Spielen mit dem Gottesbegriff und der Aufgabe einer Religionsgründung<br />

lag also in der Luft und kann daher bei dem jungen Gutzkow um<br />

so weniger überraschen, als er die Phantasie von einem freigeistigen und<br />

sozialen Papste in reifen Jahren wieder aufnahm, in dem wunderlich<br />

großen Romane „Der Zauberer von Rom". Halten wir für unseren Zweck<br />

nur das Eine fest: Wally ist eine Zweiflerin, aber wir sollen sie uns als eine<br />

tiefreligiöse Natur vorstellen. So oft auch nur im Plauderton Fragen<br />

des Glaubens berührt werden, fließen Wallys Tränen „aus dem Weihebecken<br />

einer unsichtbaren Kirche. Die Gottheit ist nirgends näher, als wo<br />

ein Herz an ihr verzweifelt. Wally war unglücklich, wenn sie an den<br />

Glauben ihrer Kindheit dachte." Die schlimmsten Verdächtigungen, die<br />

nachher zur Verfolgung des Buches führten, hätten von einem scharf­

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!