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Band 4 - m-presse

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186 Viertes Buch. Fünfter Abschnitt<br />

bewiesen werden. Man braucht dem Volke die Religion nicht zu erhalten<br />

um der Sittlichkeit willen.<br />

Denken und Dichten streiten, nicht zum Vorteile für seine Schöpfungen,<br />

um die Seele Vischers. Der Dichter erhebt sich noch kecker über die<br />

Volksreligion als der Denker; der Dichter spottet nicht, aber er hat das<br />

heilige Lachen. Die Pfahldorfgeschichte Auch Einers ist, außerdem daß sie<br />

ein köstlicher und tiefer Spaß ist, ein wilder Angriff gegen jede positive<br />

Religion. Ein stotterndes Bekenntnis zu einem religionslosen Theismus<br />

wagt sich, aus künstlerischen Gründen, nur undeutlich hervor. Der Dichter<br />

steht mit seinem Herzen ganz auf der Seite der kirchenfeindlichen Aufklärung;<br />

man hört ihn ordentlich mitlachen, da bei der homerischen Prügelei<br />

der Barde Guffrud Kullur (Gottfried Keller) den Pfarrer überlegt und die<br />

Sitzgelegenheit gründlichst bearbeitet; und die große Parodie auf den<br />

christlichen Katechismus, bei der Konfirmation der Pfahldorfkinder, läßt<br />

an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Groß und laut erklingt das Lachen<br />

über die Schöpfungslegende, über den Teufel, über die Erlösung, über die<br />

Gebetswirkung, über die Hölle, über die ewige Seligkeit.<br />

Suchen wir aber Vischers letztes Glaubensbekenntnis dort, wo sich<br />

dieser Bekenner am persönlichsten gibt, in seinen Versen, die er aufrichtig<br />

und stolz „Lyrische Gänge" genannt hat, so finden wir einen entschiedenen<br />

Atheisten, der aber freilich nur mit dem Worte Gottes fertig geworden ist,<br />

nicht ebenso mit dem Wortschalle „Gott". Es ist, viel kühner ausgesprochen,<br />

der Standpunkt Schillers, der sich aus Religion zu keiner Religion bekennt.<br />

Vischer ist so tolerant, daß er intolerant wird gegen die Intoleranz. Ich<br />

denke aber zumeist an die Anhänge zu der übermütigen "Tragischen Geschichte<br />

von einer Zigarrenschachtel". Schon Anhang 2 wendet sich mit<br />

Berserkerzorn gegen christliche Vorstellungen. "Michel und seine Vetter,<br />

sie brauchen Götter . . . Mit seinen freundlichen Menschenzügen will<br />

ihnen Jesus nicht genügen, ein Gottessohn muß er sein: und in höllischem<br />

Flammenschein müssen, weil sie's nicht glauben können, Tausende, aber<br />

Tausende brennen, unter der Folter in Henkershänden vor Schmerzen<br />

brüllend ihr Leben enden." Dann aber in Anhang 3, der kurz und scharf<br />

„Ohne" überschrieben ist, erhebt sich ein Dichter zu der vollen Höhe der<br />

Unfrömmigkeit.<br />

„Wir haben keinen<br />

Lieben Vater im Himmel.<br />

Sei mit dir im Reinen!<br />

Man muß aushalten im Weltgetümmel<br />

Auch ohne das.<br />

Was ich alles las<br />

Fr. Th. Vischer 187<br />

Bei gläubigen Philosophen,<br />

Lockt keinen Hund vom Ofen.<br />

Wär' einer droben in Wolkenhöh'n<br />

Und würde das Schauspiel mitanseh'n,<br />

Wie mitleidslos, wie teuflisch wild<br />

Tier gegen Tier und Menschenbild,<br />

Mensch gegen Tier und Menschenbild<br />

Wütet mit Zahn, mit Gift und Stahl,<br />

Mit ausgesonnener Folterqual,<br />

Sein Vaterherz würd' es nicht ertragen,<br />

Mit Donnerkeilen würd' er dreinschlagen,<br />

Mit tausend heiligen Donnerwettern<br />

Würd' er die Henkerknechte zerschmettern."<br />

In der Natur ist kein Erbarmen. Der Dichter möchte gar nicht auferstehen.<br />

Ich danke! Zuletzt aber, wie gesagt, kommt er von dem Wortschalle<br />

„Gott" nicht los und benennt so alles, was zum obern Stockwerk<br />

gehört.<br />

"In Seelen, die das Leben aushalten<br />

Und Mitleid üben und menschlich walten,<br />

Mit vereinten Waffen<br />

Wirken und schaffen<br />

Trotz Hohn und Spott,<br />

Da ist Gott."<br />

Das Reimpaar "Gott" und „Spott" findet sich wie von selbst, bei<br />

Goethe wie bei Fischer.<br />

Es wäre kleinlich und vielleicht eitel, wenn ich dieses prächtige Glaubensbekenntnis<br />

wegen des Haftens am Worte sprachkritisch tadeln wollte.<br />

Vischer hat die Sprache, besonders seine ererbte Mundart, geliebt, doch<br />

nicht überschätzt. Die feierlich wissenschaftliche Sprache des Textes seiner<br />

Ästhetik (das System ohne die wertvolleren Exkurse) hat er als alter<br />

Herr preisgegeben, wie ich aus seinem eigenen Munde gehört habe.<br />

Er redet von Gott nicht viel anders, als ein Agnostiker vom Universum<br />

oder vom Unbekannten reden würde. Nur daß einige Pietät gegen seinen<br />

eigenen Kinderglauben wie ein Oberton mitklingt. Doch zurück zu den<br />

30er Jahren des 19. Jahrhunderts, aus denen uns Straußens Freund<br />

und Unglaubensgenosse fast bis zur Gegenwart gelockt hat.<br />

Wir haben von D. F. Strauß zu dem Hegelianer Vischer abschweifen Ludwig<br />

dürfen und müssen; wir kehren zu der Philosophie des Atheismus zurück<br />

und halten jetzt bei ihrem wichtigsten Vertreter im 19. Jahrhundert, bei

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