Band 4 - m-presse
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282 Viertes Buch. Achter Abschnitt<br />
als die Denker, wohlgemerkt, klassizistische Dichter, nicht etwa nur sansculottische<br />
Gesellen wie Herwegh und Freiligrath. Die Lösung des Rätsels<br />
wird vielleicht durch die Erinnerung gegeben, daß nach dem Zusammenbruch<br />
der nachkantischen deutschen Metaphysik der Materialismus das<br />
Feld behauptete und für die arme Philosophie im ganzen Abendlande<br />
ein Tiefstand eingetreten war, gleich für einige Jahrzehnte. Als Beispiel<br />
für diesen Tiefstand werde ich den noch in meiner Jugend viel gerühmten<br />
Lotze wählen und, weil die Lotzes eigentlich unsterblich sind, das Bild<br />
eines Lotze der springlebendigen Gegenwart hinzufügen. Lotze selbst weist<br />
noch auf den Materialismus der fünfziger Jahre zurück, war als Prediger<br />
der Reaktion gegen das wirklich unerträgliche Dogma von Kraft und<br />
Stoff erklärlich, reicht aber mit seinem Hauptwerke ("Mikrokosmus", 1856<br />
bis 1864) bis in die Bismarckzeit hinein; der Lotze der Gegenwart, Rudolf<br />
Eucken, leitet schon rhetorischer in die wilhelminische Zeit hinüber, die<br />
uns ja auch noch beschäftigen wird.<br />
Achter Abschnitt<br />
Das Zeitalter Bismarcks<br />
"Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus,<br />
den sie erregt." Goethe hat das gesagt und dabei an die deutsche Geschichte<br />
denken können, die Friedrich der Große gemacht hatte; wir denken<br />
bei dem weisen Satze an die deutsche Geschichte, die nach Bismarck allein<br />
getauft zu werden verdiente. Ein Aufschwung auch des Geistes war damals<br />
davon ausgegangen, daß ein deutscher König so kraftvoll auftrat, wie vorher<br />
nur die Könige von England und Frankreich; ein Aufschwung auch des<br />
Geistes ließ sich jetzt spüren, als die alte Sehnsucht nach Einheit durch Blut<br />
und Eisen erfüllt wurde, zunächst nur im Dienste von Macht und Reichtum.<br />
Die Dichter und Denker, die zu religiöser und politischer Freiheit aufgerufen<br />
hatten, beugten sich fast alle dem Stern des genialen Staatsmannes;<br />
und so kam es, daß in der Philosophie der Materialismus, in der Poesie<br />
das junge, das sich selbst befreiende Deutschland nach wenigen Jahren<br />
überwunden schien. Neue Geistesströmungen umspielten die Zeit der<br />
politischen Leistung Bismarcks.<br />
Fechner Unter diesen Geistesströmungen verdiente, wenn Gerechtigkeit herrschte,<br />
Gustav Theodor Fechner (geb. 1801, gest. 1887) an erster Stelle genannt<br />
zu werden, obgleich er seine Absage an den Materialismus („Zendavesta")<br />
schon 1851 herausgegeben hatte. Aber Fechner ist in Vergessen<br />
Fechner 283<br />
heit geraten, weil man seine pantheistische Mystik mißverstand und weil<br />
seine stärkste wissenschaftliche Anregung, die zu einer erkenntniskritischen<br />
Psychophysik, in der mechanischen Durchführung Wundts kläglich gescheitert<br />
ist. Fechner hat für Bekämpfung des dogmatischen Materialismus<br />
mehr getan als irgendein frommer oder idealistischer Philosoph.<br />
An Gaben von Kopf und Herz reich und fein, unbestechlich frei, wie einst<br />
Lichtenberg, ein Humorist ersten Ranges (er schrieb solche Dinge verschämt<br />
unter dem Namen Mises), ein Pantheist ohne Kirchenglauben, immer<br />
bestrebt, „die große Höhlung des Wortes Gott mit Inhalt auszufüllen",<br />
wurde er von den mechanistischen Vertretern der Natur- und Geisteswissenschaften<br />
beiseite geschoben und vom Laienpublikum wie ein kurioser<br />
Kauz behandelt. Als ob er ein verunglückter Dichter gewesen wäre. Zu<br />
weit größerem Ansehen, besonders bei den Professoren der Geisteswissenschaften,<br />
gelangte sein jüngerer Zeitgenosse, der ganz unfreie Antimaterialist<br />
Rudolf Hermann Lotze (geb. 1817, gest. 1881), der Verfasser des<br />
viel zu viel gerühmten „Mikrokosmus".<br />
Aus Lotzes "Grundzügen der Religionsphilosophie" (kurz nach seinem<br />
Tode aus nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben) kann man erfahren,<br />
wie weit ein feiner Kopf und ein reines Herz zu gehen vermögen,<br />
wenn die Sehnsucht nach etwas Göttlichem größer ist als die Überzeugung<br />
von dem Dasein einer persönlichen Gottheit.<br />
Selbstverständlich erkennt Lotze die Triftigkeit der hergebrachten Beweise<br />
für das Dasein Gottes nicht an. Was er von dem ersten dieser verstaubten<br />
Beweise sagt, das gilt eigentlich für alle: diese Gedankengänge<br />
seien nur ein lebhafter und kräftiger Ausdruck einer Gemütserscheinung,<br />
des Zuges nach dem Übersinnlichen; gut ist beim teleologischen Beweise<br />
die Ablehnung der Superlative, die aus der höchsten Zweckmäßigkeit auf<br />
die höchste Weisheit schließen; auch daß der moralische Beweis (aus dem<br />
Verhältnisse von Verdienst und Lohn) ein törichter Zirkelschluß sei. Auch<br />
weiß Lotze sehr wohl, daß "Gott" als Vorstellung erst psychologisch im<br />
Menschen entsteht, wie denn auch die Naturgesetze nicht in den Dingen,<br />
sondern im Kopfe des Menschen stecken; er scheint geneigt, das Absolute<br />
nur im sprachlichen Ausdrucke zu finden (S. 23), sogar den rein sprachlichen<br />
Charakter des Materialismus zu verstehen.<br />
Es steht natürlich nichts im Wege, dem einheitlichen Weltall ein einheitliches<br />
Prinzip zugrunde zu legen und dieses "Gott" zu nennen; die<br />
entscheidende Frage wäre, ob diesem Prinzip Persönlichkeit zuzugestehen<br />
sei oder nicht. Und da wird Lotze ganz scholastisch, wenn er z. B. Persönlichkeit<br />
schon einem Geiste zuschreibt, der sich "im Gegensatz gegen seine<br />
eigenen Zustände, zunächst also gegen seine eigenen Vorstellungen, als