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Band 4 - m-presse

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372 Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />

konnte es aus Privatunterhaltungen noch deutlicher erfahren als aus<br />

den Beifallsbezeugungen im Theater, daß diesen jungen Leuten und<br />

ihren Frauen und Mädchen das Bekenntnis zum Atheismus, bei einem<br />

Mangel an jeder Vorbildung nur zu einem dogmatischen Atheismus,<br />

wieder etwas war wie ein künstlerischer Genuß. Ihre Sehnsucht ins Freie<br />

schien Befriedigung zu finden.<br />

So dogmatisch war ihr Führer Bruno Wille nicht. Seine Stellung<br />

zur Religion hat er unzweideutig in vielen Zeitschriften und in seinen<br />

populärphilosophischen Büchern niedergelegt, am knappsten vielleicht in<br />

einem Aufsatze, der in dem guten, von Frischeisen-Köhler veranstalteten<br />

Sammelwerke „Weltanschauung" (1910) enthalten ist. Ihm ist Jesus nicht<br />

einmal mehr eine historische Persönlichkeit; Paulus ist der Stifter der<br />

Christus-Legende und des Christentums. Die Christologie ist eine Dichtung,<br />

eine Art Volkspoesie; trotz ihrer Anschaulichkeit so wenig wahr, wie die<br />

Märchen der Brüder Grimm. Dennoch kann diese Dichtung uns „erlösen",<br />

durch die schöne Realität ihrer Idee. Ich kann mit Wille unmöglich darin<br />

übereinstimmen, daß — wie er anzunehmen scheint — der Idealismus<br />

über den kritischen Nominalismus gesiegt habe; Wille dürfte da den<br />

kritischen Nominalismus, der seit bald tausend Jahren langsam zum<br />

wissenschaftlichen Agnostizismus gediehen ist, mit dem unkritischen, scheinwissenschaftlichen,<br />

beschränkten Materialismus zusammengeworfen haben.<br />

Nichts wäre einzuwenden gegen die gottlose Religion, gegen den Glauben<br />

an einen inneren Christus, zu welchem Bruno Wille sich bekennt; dieser<br />

Glaube steht dem sehr nahe, was ich gottlose Mystik nenne; nur daß Wille<br />

in seinem Idealismus doch bei der ewigen Idee des Menschen stehen<br />

geblieben, also auf dem Wege von Stirner und Nietzsche nicht weiter<br />

gegangen ist. Er hat wohl nicht erlebt, daß eine Psychologie ohne<br />

Psyche doch eher möglich ist als eine Gottesgelahrtheit ohne Gott; denn<br />

bei Psyche oder Seele kann sich auch der Leugner des Begriffs noch etwas<br />

vorstellen, etwas Verbales etwa; Gott aber ist unvorstellbar, weil er für<br />

immer (geglaubt oder geleugnet) der substantivischen Welt angehört.<br />

Zehnter Abschnitt<br />

Der Friede in gottloser Mystik<br />

Wir stehen vor dem Ziele unserer Darstellung einer Geschichte der<br />

Befreiung vom Gottesbegriff, wir stehen vor der Gegenwart. Genau ein<br />

sogenanntes Menschenalter trennt das Jahr, in welchem ich diesen letzten<br />

Die freie Bühne 373<br />

Abschnitt zum Abschluß bringe und in welchem Gerhart Hauptmann zu<br />

seinem 60. Geburtsjahre als der beste Vertreter deutscher Dichtung gefeiert<br />

wird, von der Zeit, da dieselben Vielzuvielen, die jetzt Hosianna rufen,<br />

kreuzige" schrien, als Hauptmann aus Anlaß der „Freien Bühne" entdeckt<br />

wurde. Je mehr er nur Dichter ist, desto deutlicher wird der Umschwung<br />

in diesem kurzen Menschenalter, wenn wir seine Haltung zur Religion vergleichen<br />

mit dem, was Anno 1889 hüben und drüben für Freidenkerei<br />

erklärt wurde: bei den Schafen und bei den Böcken der „Freien Bühne".<br />

Zu den ersten darf ich Anzengruber zählen, der auf meinen Antrag, widerwillig<br />

genug, aufgeführt wurde, zu den zweiten den damals vielgeschmähten<br />

Heyse.<br />

Ludwig Anzengruber, bloß ein Genie, ohne literarische oder gar philosophische<br />

„Bildung", beschränkte sich darauf, oft und oft seinen Abscheu vor<br />

katholischer Unduldsamkeit zu äußern, für die Altkatholiken in einer Meisterposse<br />

(„Kreuzelschreiber") Partei zu ergreifen, einmal eines der Zehngebote<br />

ad absurdum zu führen („Das vierte Gebot") und in seinen versonnensten<br />

Gestalten den Pantheismus Spinozas — den er eher mit den Augen Auerbachs<br />

sah als mit denen Goethes — zu lehren. Paul Heyse, der feinste und<br />

fast gelehrteste Vertreter des aus dem "Jungen Deutschland" hervorgegangenen<br />

Realismus, wagte sich viel weiter vor in der Unchristlichkeit.<br />

Sieht man aber näher zu, so verwahrt sich auch Heyse noch dagegen, mit<br />

den Atheisten zusammengeworfen zu werden. Ich führe nur zwei Sätze<br />

von ihm an, just aus dem guten Romane, dessen Absicht auf Befreiung<br />

vom Jenseitsglauben gerichtet ist, aus den "Kindern der Welt". Es heißt<br />

da (I, 218): „Sie (die Freien) lassen jedes Bekenntnis gelten, nur das<br />

nicht, daß man nichts zu bekennen habe. Der Jude, der Muselmann, der<br />

Feueranbeter, der Fetischdiener, der einen Klotz oder Stein für einen Gott<br />

ansieht — alle scheinen ihnen ehrwürdig und keiner so arm, wie ein redlicher<br />

Wahrheitsucher." Sehr schön; aber dann: „Die Hingebung an etwas<br />

Höheres, Reicheres, Mächtigeres — an das Höchste und Erhabenste, das<br />

wir eben Gott nennen. Und so steht der Fetischanbeter meinem Gemüte<br />

näher als der Atheist." Gefühlsreligion also, immer noch. Man hört die<br />

Verwandtschaft heraus zwischen dem Berliner Heyse und Schleiermacher,<br />

dem Prediger an der Dreifaltigkeitskirche.<br />

Dagegen halte man, daß der junge, noch unentdeckte Gerhart Haupt­ Gerhart<br />

mann in einem Freundesbriefe schon 1883, da er von "Anfechtungen"<br />

redet, die Worte niederschreibt: "wie die Christen sagen". Man überhöre<br />

nichts. Er nennt sich nicht mehr einen Unchristen, er stellt sich einfach außerhalb<br />

des Kreises. Er sagt schon, als ob er kein Abendländer wäre: "die<br />

Christen". Während zu gleicher Zeit bereits konfessionslose Monisten und

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