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Band 4 - m-presse

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38 Drittes Buch. Dreizehnter Abschnitt<br />

Förderer der Aufklärung, ihr Vollender, der Sprecher des Zeitalters<br />

Friedrichs; in seinem zeitlosen Lebenswerke dagegen war Kant wirklich<br />

der Überwinder oder Vernichter der Aufklärung, weil er den ihr zugrunde<br />

liegenden Rationalismus, den Vernunftaberglauben, absetzte wie Hébert<br />

und Chaumette bald darauf den lieben Gott absetzten, weil er den möglichen<br />

Leistungen der Vernunft ihre Grenzen zog, so unwidersprechlich,<br />

als ob er diese Grenzen nicht bald selbst überschritten hätte. Ich glaube,<br />

den Aufsatz so verstehen zu dürfen, als ob Kant gesagt hätte: "Wir können<br />

an der Aufklärung nicht vorbei, wir müssen durch sie hindurch, weiter,<br />

höher. Aufklärung ist nicht ein Ziel (wie die Mendelssohn glaubten),<br />

sondern eine Richtung, eine Bewegung. Ein aufgeklärtes Zeitalter wird<br />

es niemals geben, es ist zu viel dunkel in der menschlichen Vernunft; es<br />

gibt nur ein Streben nach dem Licht." So dachte nicht immer der Systematiker<br />

Kant, immer der Schriftsteller Kant, der uns neben Lessing der<br />

stärkste und härteste Befreier war.<br />

Die weltberühmten Schüler Kants, Schelling und Hegel, haben beide<br />

die Geistesbefreiung der Menschheit praktisch nur geschädigt, so sehr sie,<br />

namentlich Hegel, das Denkgeschäft theoretisch eingeübt und durch einige<br />

ketzerische Jünger den Kampf gegen das Christentum und gegen Gott<br />

selbst erhitzt haben. Um seines angeblichen Atheismusstreites willen werde<br />

ich auf den unmittelbarsten Jünger Kants, auf Fichte, sogleich zurückkommen<br />

müssen. Einstweilen habe ich einiger ungleicher Männer zu gedenken,<br />

die die Willkür der Philosophiegeschichte nicht so berühmt werden<br />

ließ, die nicht so kraftvoll und sicherlich nicht so ehrgeizig waren wie<br />

Fichte, Schelling und Hegel, die aber die Fackel Kants als ehrlichere Hüter<br />

des Lichts weiter trugen oder die sogar freiere und skeptischere Geister<br />

waren als der Vernunftkritiker.<br />

Den ersten Platz unter diesen Freischärlern der Aufklärung verdient<br />

Gottlob Ernst Schulze, nicht nach seinem Geburtsjahr und erst recht nicht<br />

nach dem Klange seines Namens, sicherlich aber nach dem Grade seiner<br />

philosophischen Freiheit. Schulze (geb. 1761, gest. 1833 als ein vergessener<br />

Professor in Göttingen) war bis auf seinen ehrlichen Namen vergessen,<br />

da man ihn, falls man ihn überhaupt erwähnte, seit seinem anonymen<br />

Buche gegen Kant und Reinhold (von der Kantgesellschaft erfreulicherweise<br />

neu herausgegeben, durch Arthur Liebert) regelmäßig Änesidemus-<br />

Schulze nannte. Dieser Schulze hatte das Glück, daß unter seinen Hörern<br />

zu Göttingen der unersättlich wißbegierige Schopenhauer saß und sich bewußt<br />

blieb, wieviel er diesem scharfsinnigsten Gegner Kants verdankte;<br />

man kann es genau angeben: Sinn für die Geschichte der Philosophie,<br />

Erkenntnis von Kants Rückfall in die Dogmatik (Kausalität des Ding-an-<br />

Änesidemus-Schulze 39<br />

sich), Ablehnung der Modephilosophen Fichte, Schelling und Hegel, die<br />

gar nicht zu wissen schienen, daß Kant die Metaphysik abgesetzt hatte. Und<br />

Schulze hatte das Verdienst, den Rückschritt zu bemerken, den Kant von<br />

dem Skeptiker Hume aus gemacht hatte. Zurück zu Hume! hätte schon<br />

Schulze sagen können und müssen. Er hatte kein neues eigenes System<br />

aufgestellt (und die Philosophiegeschichte, die in dem Willen zum System<br />

keinen Mangel an Rechtschaffenheit sieht, kennt ihn darum nur als eine<br />

negative Größe), er verblüffte nicht durch paradoxe Sätze, aber er war<br />

einer der gewissenhaftesten Hüter des ewigen Gedankens der Skepsis.<br />

Schulze steht viel fester als Fichte, Schelling oder Hegel auf dem Boden<br />

der neuen Begriffe Kants; er ist sein bester und freiester Schüler; mit<br />

dem Hute in der Hand naht er dem verehrungswürdigen Kant erst im<br />

letzten Abschnitte seines „Änesidemus", im fünften Briefe, nachdem er<br />

vorher den eitlen Reinhold (und eigentlich auch schon Fichte) tüchtig gezaust<br />

hat. Kant war zu weit gegangen, da er den gefährlichen Erwecker<br />

Hume zum Schweigen bringen wollte; solcher Vermessenheit gegenüber<br />

wollte Schulze ruhig zeigen, daß der Kritizismus Kants nichts Endgültiges<br />

sei, daß der Skeptizismus sich rechtfertigen lasse und nicht zur Unmoral<br />

führe. Und diese Kritik der Vernunftkritik wurde zu einer Tat. Kant<br />

hatte aus dem Gefühle einer praktischen Vernunft heraus beweisen zu<br />

können geglaubt: es gibt einen Gott, es gibt eine Unsterblichkeit. Schulze<br />

läßt die Frage offen, ob auch nur das Dasein der praktischen Vernunft selbst<br />

eine Tatsache sei; um so bestimmter lehnt er den logischen Schluß Kants<br />

ab; er sagt: aus den Forderungen des Moralgefühls könne niemals auf die<br />

Existenz der Bedingungen geschlossen werden, unter denen die Forderungen<br />

Geltung haben. Ein Gott könne die Notwendigkeit der Moral garantieren,<br />

nicht das Moralgefühl einen Gott. Kants moralischer Beweis für das<br />

Dasein Gottes sei nicht besser als die von Kant widerlegten scholastischen<br />

Beweise. "Wenn der Gottesglaube Bedingung ist, ohne die man dem<br />

Sittengesetze nicht entsprechen kann, so muß dieses von jenem abgeleitet<br />

werden; ist er nicht Bedingung, dann soll er beiseite gelassen werden."<br />

(Man hat behauptet, Schulze habe sich in seinen letzten Büchern der<br />

mystischen Frömmigkeit Jacobis genähert; gottlose Mystik wäre mit Skepsis<br />

wohl verträglich, aber die ganze Behauptung ist falsch. Schulze hat sich<br />

noch 1823 gegen alle Theosophie, Schwärmerei und Mystik erklärt, hat<br />

niemals Rücksicht auf religiöse Forderungen genommen, hat sogar in<br />

seinen Schulbüchern [z. B. in der "Psychischen Anthropologie"] sehr kühl<br />

vom Christentum geredet, ist seinem Meister Hume immer treu geblieben.<br />

Was er zuletzt lehrte, war ein skeptischer Realismus. Er hätte — mit<br />

Trendelenburg — sagen können: "Wir wollen das Ding, nicht uns.")

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