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Band 4 - m-presse

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376<br />

Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />

heuchlerisch wieder anknüpfen, aber die Naturwissenschaften stehen längst<br />

außerhalb der Kirche und die Dichtung gar ist allgemein atheistisch, auch da,<br />

wo sie die toten Symbole des Theismus wiederzubeleben sucht." Wenigstens<br />

für das wissende oder nach Wissen strebende Deutschland ist das kaum<br />

zu bezweifeln. Ich darf mich also (zeitlos innerhalb der letzten dreißig Jahre)<br />

darauf beschränken, nach dem Dichter zwei Vertreter der Geisteswissenschaften<br />

zu Worte kommen zu lassen: den Kenner der Theologiegeschichte<br />

Tröltsch (geb. 1865) und den Sozialisten Göhre (geb. 1864). Wir werden<br />

noch andere Richtungen und Männer kennen lernen. Auch Tröltsch hat die<br />

Kirchengeschichte sozialistisch gesehen, und so werden wir von ihm ausgehen<br />

können zu einer Rundschau über die Bestrebungen der Tapferen, die religiös<br />

und sozial zugleich sein möchten.<br />

Tröltsch Es war das religiöse Gefühl, als Gefühl, unausrottbar: eine Religion<br />

ohne Gott und ohne Gemeinschaft, in der Zeit an der Wende des Jahrhunderts,<br />

die wir jetzt rückschauend als die Zeit vor dem Weltkriege betrachten.<br />

Ernst Tröltsch, der wahrlich nicht rechtgläubig ist, der das Christentum zugleich<br />

mit der Wissenschaft und mit dem Sozialismus versöhnen möchte,<br />

hat den Zustand um 1900 tadelnd und doch gut dargestellt in dem Aufsatze<br />

"Die Kirche im Leben der Gegenwart" (wieder in dem schon angeführten<br />

Sammelwerke "Weltanschauung"). In England und in Amerika herrsche<br />

demokratisch eine Art Freikirchentum; man schone die alte Einrichtung<br />

als eine Art nervensparender Kraft, als eine der großen historischen Gesellschaftsmächte,<br />

die man nicht ohne Schaden zerstört und die man lieber<br />

aufs Praktische ablenkt, statt sie mit billigem oder gefahrlosem Hohn oder<br />

Grimm zu überschütten. In Deutschland sei die Lage der Dinge durch<br />

das alte Staatskirchentum bedingt; man erzwinge den konfessionellen<br />

Religionsunterricht, beeinflusse das Bildungswesen kirchlich und verpflichte<br />

alle Beamten zu einem Bekenntnisse. Die Sekten, bei denen allein noch<br />

Freiwilligkeit und religiöses Leben zu finden sei, werden unterdrückt.<br />

Tröltsch weiß sehr gut, daß die mächtigste Partei, die der Sozialdemokraten,<br />

auf das Aussterben der Kirchen und des Christentums wartet, geduldig<br />

oder ungeduldig. Er träumt von einem Christentums-Ersatz; er reicht<br />

den Halben die Hand zu einem Kompromisse, wenn er sagt: "Wo man das<br />

Neue nicht kennt und nichts anderes hat, hält man sich an das, was man<br />

besitzt." Sorge macht ihm allein der Katholizismus; aber auch da setzt er<br />

seine Hoffnungen auf den Modernismus, der sich ja wirklich in Italien<br />

und in Frankreich etwas tapferer regt als in Deutschland.<br />

Gelänge es den romanischen Modernisten, vielleicht mit Hilfe der<br />

alten nationalen Bewegung, in dem neu erstandenen, leider nur gegen die<br />

deutschen Landesgenossen gefährlich ungerechten Reiche der Tschechen<br />

Monotheismus 377<br />

die freie Wahl der Pfarrer in freien Gemeinden durchzusetzen, so wäre die<br />

erste Bresche gelegt in den Festungsturm der römischen Kirche. Diese<br />

älteste und stärkste Organisation kämpft mit traditioneller Schlauheit und<br />

Rücksichtslosigkeit für die weltliche Macht ihrer Oberhäupter, während sie<br />

den Namen des alten Judengottes auf ihre Fahne geschrieben trägt; sie<br />

kämpft diesen Kampf wahrlich nicht mit den Mitteln des Geistes, der noch<br />

lebendig ist, nur noch mit den toten Wörtern und Symbolen des Mittelalters.<br />

Nebenbei bemerkt: nur der katholischen Kirche und der protestantischen<br />

Orthodoxie haben es die Juden zu verdanken, daß ihre Bibel immer noch<br />

als die erste Offenbarung des Judengottes heilig gehalten wird. Der<br />

kritische Protestantismus des 19. Jahrhunderts ist längst mit dem Alten<br />

Testament und seinen Weissagungen fertig geworden, wie vorher Spinoza,<br />

die englischen Deisten, die französischen Enzyklopädisten, in Deutschland<br />

Reimarus und der Zopfprediger Schulz. Der Monotheismus wird nur<br />

noch, weil die christliche Theologie ihn in der Theorie predigt, dem jüdischen<br />

Volke nach wie vor zu einem weltgeschichtlichen Verdienste angerechnet.<br />

Unbekümmert darum, daß die alten Juden zwar ihren Jehova allein verehrten,<br />

andere Götter aber, die sie Götzen nannten, durch ihre Furcht<br />

anerkannten, und daß die christliche Theologie dem Polytheismus nicht nur<br />

den Heiligenkult entnahm. Es muß aber endlich einmal auch ausgesprochen<br />

werden, daß der Monotheismus der jüdisch-christlichen Theologie überdies<br />

doch etwas ganz anderes ist als der angeblich philosophische Monotheismus,<br />

der seit dem Aufkommen einer Naturreligion oder des Deismus eine Einheit<br />

als erste Ursache oder als Weltgrund zu lehren unternimmt.<br />

Von dieser Rationalisierung, Abschwächung, meinetwegen Auflösung<br />

des persönlichen Gottesbegriffs hat die römische Kirche amtlich gar nicht<br />

Notiz genommen; das überließ sie den ohnehin ketzerischen Protestanten.<br />

Einzelne Jesuiten, die sich zur größeren Ehre des Judengottes auch der<br />

neuen wissenschaftlichen Sprache bedienten, konnten geduldet werden,<br />

blieben aber immer verdächtig. Die römische Kirche stand und steht unveränderlich<br />

auf der äußersten Rechten des Heerbanns, der von dem zornigen<br />

Judengotte ein wunderbares, naturwidriges Eingreifen hienieden, Lohn<br />

und Strafe im Jenseits erwartet. Auf der äußersten Linken einer Minderheit,<br />

die das Heil hier und drüben in dem milden Jesus sieht, dem Gottmenschen<br />

oder dem göttlichen Menschen, steht die kirchlich völlig freie,<br />

tief menschlich und sozial wirkende, vielleicht auf eine schöne Religion der<br />

Zukunft weisende Gruppe der „Religiös-Sozialen", die sich so nur aus den<br />

freien Gemeinden der Schweiz entwickeln konnte. Diese tapferen Männer Soziale<br />

haben in Holland, in England und in den durch Kierkegaard vorbereiteten<br />

nordischen— Ländern zögernde Gefolgschaft gefunden, in Deutschland gar

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