Band 4 - m-presse
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Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />
heuchlerisch wieder anknüpfen, aber die Naturwissenschaften stehen längst<br />
außerhalb der Kirche und die Dichtung gar ist allgemein atheistisch, auch da,<br />
wo sie die toten Symbole des Theismus wiederzubeleben sucht." Wenigstens<br />
für das wissende oder nach Wissen strebende Deutschland ist das kaum<br />
zu bezweifeln. Ich darf mich also (zeitlos innerhalb der letzten dreißig Jahre)<br />
darauf beschränken, nach dem Dichter zwei Vertreter der Geisteswissenschaften<br />
zu Worte kommen zu lassen: den Kenner der Theologiegeschichte<br />
Tröltsch (geb. 1865) und den Sozialisten Göhre (geb. 1864). Wir werden<br />
noch andere Richtungen und Männer kennen lernen. Auch Tröltsch hat die<br />
Kirchengeschichte sozialistisch gesehen, und so werden wir von ihm ausgehen<br />
können zu einer Rundschau über die Bestrebungen der Tapferen, die religiös<br />
und sozial zugleich sein möchten.<br />
Tröltsch Es war das religiöse Gefühl, als Gefühl, unausrottbar: eine Religion<br />
ohne Gott und ohne Gemeinschaft, in der Zeit an der Wende des Jahrhunderts,<br />
die wir jetzt rückschauend als die Zeit vor dem Weltkriege betrachten.<br />
Ernst Tröltsch, der wahrlich nicht rechtgläubig ist, der das Christentum zugleich<br />
mit der Wissenschaft und mit dem Sozialismus versöhnen möchte,<br />
hat den Zustand um 1900 tadelnd und doch gut dargestellt in dem Aufsatze<br />
"Die Kirche im Leben der Gegenwart" (wieder in dem schon angeführten<br />
Sammelwerke "Weltanschauung"). In England und in Amerika herrsche<br />
demokratisch eine Art Freikirchentum; man schone die alte Einrichtung<br />
als eine Art nervensparender Kraft, als eine der großen historischen Gesellschaftsmächte,<br />
die man nicht ohne Schaden zerstört und die man lieber<br />
aufs Praktische ablenkt, statt sie mit billigem oder gefahrlosem Hohn oder<br />
Grimm zu überschütten. In Deutschland sei die Lage der Dinge durch<br />
das alte Staatskirchentum bedingt; man erzwinge den konfessionellen<br />
Religionsunterricht, beeinflusse das Bildungswesen kirchlich und verpflichte<br />
alle Beamten zu einem Bekenntnisse. Die Sekten, bei denen allein noch<br />
Freiwilligkeit und religiöses Leben zu finden sei, werden unterdrückt.<br />
Tröltsch weiß sehr gut, daß die mächtigste Partei, die der Sozialdemokraten,<br />
auf das Aussterben der Kirchen und des Christentums wartet, geduldig<br />
oder ungeduldig. Er träumt von einem Christentums-Ersatz; er reicht<br />
den Halben die Hand zu einem Kompromisse, wenn er sagt: "Wo man das<br />
Neue nicht kennt und nichts anderes hat, hält man sich an das, was man<br />
besitzt." Sorge macht ihm allein der Katholizismus; aber auch da setzt er<br />
seine Hoffnungen auf den Modernismus, der sich ja wirklich in Italien<br />
und in Frankreich etwas tapferer regt als in Deutschland.<br />
Gelänge es den romanischen Modernisten, vielleicht mit Hilfe der<br />
alten nationalen Bewegung, in dem neu erstandenen, leider nur gegen die<br />
deutschen Landesgenossen gefährlich ungerechten Reiche der Tschechen<br />
Monotheismus 377<br />
die freie Wahl der Pfarrer in freien Gemeinden durchzusetzen, so wäre die<br />
erste Bresche gelegt in den Festungsturm der römischen Kirche. Diese<br />
älteste und stärkste Organisation kämpft mit traditioneller Schlauheit und<br />
Rücksichtslosigkeit für die weltliche Macht ihrer Oberhäupter, während sie<br />
den Namen des alten Judengottes auf ihre Fahne geschrieben trägt; sie<br />
kämpft diesen Kampf wahrlich nicht mit den Mitteln des Geistes, der noch<br />
lebendig ist, nur noch mit den toten Wörtern und Symbolen des Mittelalters.<br />
Nebenbei bemerkt: nur der katholischen Kirche und der protestantischen<br />
Orthodoxie haben es die Juden zu verdanken, daß ihre Bibel immer noch<br />
als die erste Offenbarung des Judengottes heilig gehalten wird. Der<br />
kritische Protestantismus des 19. Jahrhunderts ist längst mit dem Alten<br />
Testament und seinen Weissagungen fertig geworden, wie vorher Spinoza,<br />
die englischen Deisten, die französischen Enzyklopädisten, in Deutschland<br />
Reimarus und der Zopfprediger Schulz. Der Monotheismus wird nur<br />
noch, weil die christliche Theologie ihn in der Theorie predigt, dem jüdischen<br />
Volke nach wie vor zu einem weltgeschichtlichen Verdienste angerechnet.<br />
Unbekümmert darum, daß die alten Juden zwar ihren Jehova allein verehrten,<br />
andere Götter aber, die sie Götzen nannten, durch ihre Furcht<br />
anerkannten, und daß die christliche Theologie dem Polytheismus nicht nur<br />
den Heiligenkult entnahm. Es muß aber endlich einmal auch ausgesprochen<br />
werden, daß der Monotheismus der jüdisch-christlichen Theologie überdies<br />
doch etwas ganz anderes ist als der angeblich philosophische Monotheismus,<br />
der seit dem Aufkommen einer Naturreligion oder des Deismus eine Einheit<br />
als erste Ursache oder als Weltgrund zu lehren unternimmt.<br />
Von dieser Rationalisierung, Abschwächung, meinetwegen Auflösung<br />
des persönlichen Gottesbegriffs hat die römische Kirche amtlich gar nicht<br />
Notiz genommen; das überließ sie den ohnehin ketzerischen Protestanten.<br />
Einzelne Jesuiten, die sich zur größeren Ehre des Judengottes auch der<br />
neuen wissenschaftlichen Sprache bedienten, konnten geduldet werden,<br />
blieben aber immer verdächtig. Die römische Kirche stand und steht unveränderlich<br />
auf der äußersten Rechten des Heerbanns, der von dem zornigen<br />
Judengotte ein wunderbares, naturwidriges Eingreifen hienieden, Lohn<br />
und Strafe im Jenseits erwartet. Auf der äußersten Linken einer Minderheit,<br />
die das Heil hier und drüben in dem milden Jesus sieht, dem Gottmenschen<br />
oder dem göttlichen Menschen, steht die kirchlich völlig freie,<br />
tief menschlich und sozial wirkende, vielleicht auf eine schöne Religion der<br />
Zukunft weisende Gruppe der „Religiös-Sozialen", die sich so nur aus den<br />
freien Gemeinden der Schweiz entwickeln konnte. Diese tapferen Männer Soziale<br />
haben in Holland, in England und in den durch Kierkegaard vorbereiteten<br />
nordischen— Ländern zögernde Gefolgschaft gefunden, in Deutschland gar