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Band 4 - m-presse

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Viertes Buch. Erster Abschnitt<br />

Kirche, daß sie als juristische Person von Leben und Tod ihrer Häupter<br />

unabhängig war und sich Zeit lassen konnte.<br />

Aufhebung Es wäre also eine Geschichtsfälschung, mindestens eine Einseitigkeit,<br />

des Ordens wollte man den katholischen Historikern die Behauptung nachsprechen,<br />

der Ansturm gegen den Jesuitenorden sei auf eine Verschwörung der<br />

Enzyklopädisten zurückzuführen; so mächtig waren Voltaire und d'Alembert<br />

denn doch nicht, daß die Höfe von Frankreich, Portugal und Spanien,<br />

daß endlich die päpstliche Kurie auf Befehl der Freigeister den Ast abgesägt<br />

hätten, auf welchem die geistlichen und weltlichen Fürsten saßen. In<br />

Wahrheit hatten sich die Jesuiten seit ihrer Begründung, und gar erst nach<br />

ihren ungeheueren Erfolgen, bei allen älteren Orden verhaßt gemacht,<br />

waren in Spanien selbst von Dominikanern aus theologischen und moralischen<br />

Gründen bekämpft worden, hatten sich in Frankreich nie wieder<br />

völlig von der Niederlage erholt, die sie durch Pascal erlitten hatten;*)<br />

in Wahrheit waren die Jansenisten die Todfeinde der Jesuiten. Was aber<br />

zumeist zur Austreibung der Jesuiten aus Portugal, Spanien, Frankreich<br />

und den italienischen Staaten, sodann zur kirchlichen Aufhebung des Ordens<br />

beitrug, die Geldfrage, die Überzeugung von der ökonomischen Schädlich­<br />

Pascal *) Ich habe nur ungern darauf verzichtet, Blaise Pascal (geb. 1623, gest. 1662), einen<br />

der scharfsinnigsten Franzosen des 17. Jahrhunderts und einen ihrer tiefsten Schriftsteller,<br />

bereits im zweiten Buche hinter den großen Zweiflern anzuführen; zu den lachenden Zweiflern<br />

gehörte er auf keinen Fall, da er sich das Lachen wie jede andere Lebensfreude seit seiner<br />

Bekehrung oder Erkrankung abgewöhnt hatte; doch auch überhaupt zu den religiösen Zweiflern<br />

ist er nicht einfach zu rechnen, nicht im Sinne der Geistesbefreiung, weil er in seinen späteren<br />

Hauptschriften seine ganze Kraft aufbot, sein Christentum gegen den Unglauben zu verteidigen.<br />

Wenn er ein Ketzer war, so war er ein pietistischer Ketzer, im alten guten Sinne<br />

des Wortes Pietismus. Ich habe eben von seiner Bekehrung oder Erkrankung gesprochen<br />

und damit schon angedeutet, daß ich die leidenschaftliche Frömmigkeit seiner letzten Jahre<br />

für eine pathologische Erscheinung halte. Er geriet einmal, wenig über dreißig Jahre alt,<br />

dadurch in Lebensgefahr, daß seine Wagenpferde scheu wurden; er wurde wie durch ein<br />

Wunder gerettet. Es wäre eine würdigere Aufgabe für die Psychiatrie, anstatt den Jugendsünden<br />

von Goethe, Kleist und Nietzsche nachzuspüren, die Folgen des Choks bei Pascal<br />

medizinisch festzustellen. Bemerkenswert wäre da, daß Pascal, seitdem ihn die scheuen Pferde<br />

an den Rand eines Abgrunds gezerrt hatten, immer wieder einen materiellen Abgrund<br />

neben sich erblickte, den er zuletzt bildlich nahm: für den Abgrund des Unglaubens. Er war<br />

von Jugend auf kränklich gewesen, innerlich, beschaulich; aber nach dem Chok wandelte sich<br />

sein Geist: der Lebemann, der ausgezeichnete Mathematiker und Physiker wurde nicht nur<br />

kirchenfromm, in der Richtung des Jansenismus, sondern so brutal abergläubisch, daß er<br />

unter seinen Kleidern außer einem Stachelgürtel auch ein heilbringendes Amulett trug; denn<br />

es wird wieder nur eine Legende sein, daß dieser Pergamentstreifen nur einige Worte festgehalten<br />

habe, die Gott selber zur Rettung seiner Seele zu ihm gesprochen hätte; das Bild<br />

eines kindlichen Heiligen, das seine erste Biographin von ihm entworfen hat, ist nur für seine<br />

letzten, kranken Jahre zutreffend, wie denn Schwestern nicht immer zu trauen ist, wenn sie<br />

das Leben eines überragenden berühmten Bruders erzählen. So erwähnt die Schwester<br />

Pascals kaum mit einem Worte das moralisch und geschichtlich vernichtende Buch gegen die<br />

Jesuiten, die "Lettres écrites à un provincial". Der erste dieser Briefe (1656) war bestellte<br />

Jesuiten 103<br />

keit des Ordens, das hing schon wieder mit der geistigen Aufklärung zusammen,<br />

weil die Lehre der Physiokraten doch in ganz Europa mit der<br />

antichristlichen Propaganda verbunden war. Und schließlich hätte man<br />

blind sein müssen, um nicht zu sehen, daß die Enzyklopädisten das Feuer<br />

schürten, als sie vernahmen, es bereite sich ein Schlag gegen die Jesuiten<br />

in den Kabinetten vor. Nur lagen die Dinge nicht so einfach, wie katholische<br />

und antikatholische Bücher es darstellen. Als der Orden aufgehoben wurde,<br />

gewährte ihm just Friedrich der Große eine Freistatt in Schlesien; und<br />

nach der Wiederbelebung des Ordens wollte just Kaiser Franz von Österreich<br />

nichts von den Jesuiten wissen. So unchristlich, so weltlich, so politisch war<br />

das Abendland geworden, daß die Stellungnahme zu dem Orden, der die<br />

Armee der katholischen Kirche darstellte, von religiösen Rücksichten fast<br />

unabhängig war; nur auf dem Papier, nur in den Parteischriften hin und<br />

wieder war noch von theologischen Gegensätzen die Rede, wie z. B. von<br />

dem berüchtigten Probabilismus der Jesuiten.<br />

Wie die Jesuiten von Anfang an ein Heer bildeten im Dienste des<br />

politischen Papsttums, keinen eigentlichen religiösen Orden, so war auch<br />

die ganze Bewegung, die zur Aufhebung der Jesuiten führte, nicht ein<br />

Arbeit, im Dienste der von den Jesuiten verfolgten Jansenisten von Port-Royal: eine für<br />

uns veraltete Untersuchung über die (der Streit hat noch lange nachgewirkt) quaestio facti<br />

und quaestio juris. In den folgenden Briefen aber holte Pascal zu den wuchtigsten Schlägen<br />

aus gegen den Probabilismus und gegen die Kasuistik der jesuitischen Weltmoral. In hinreißender<br />

Sprache wird die Religion Jesu Christi (und auch die des Augustinus) gegen die<br />

herrschende christliche Religion verteidigt. Das Buch hatte einen ungeheueren Erfolg und<br />

wurde, nachdem auch eine lateinische Übersetzung die Wirkung über ganz Europa verbreitet<br />

hatte, (1660) vom Henker verbrannt.<br />

Wir dürfen bei Pascal an Kierkegaard denken, der ja auch mit seinem „Entweder —<br />

Oder" das Urchristentum zu retten vermeinte und zum radikalen Abfall führte. Dieser Zug<br />

einer Kritik aller Theologie (nach der Kritik der jesuitischen Theologen) ist um so überraschender<br />

und aufwühlender in den "Pensées", als dieses Werk nur Bruchstücke enthält, die Pascal in<br />

den Jahren der Krankheit für eine Apologie des Christentums niedergeschrieben hatte. An<br />

dieser Stelle, wo ich den Denker als einen Gegner der Jesuiten betrachte, ziemt es sich nicht<br />

recht, nur nebenbei der hohen "Pensées" zu gedenken. Ich wage aber die Versicherung,<br />

daß Pascal auch hier er selber blieb und zu Unrecht für die katholische Orthodoxie in Anspruch<br />

genommen wird. Über die Natur des Menschen denkt er so skeptisch, so zynisch meinetwegen,<br />

wie vor ihm und neben ihm nur Hobbes, Montaigne und La Rochefoucauld; man kann die<br />

Verachtung des Menschen nicht weiter treiben. Ein Skeptiker ist Pascal auch der Vernunft<br />

gegenüber; ein wahrer Philosoph sei, wer sich über die Philosophie lustig macht. Nun wird<br />

behauptet, Pascal habe die Menschen durch den Zweifel hindurch zum Glauben führen<br />

wollen. Das ist einfach nicht wahr; der Glaube kann ja — so lehrt er — weder durch Überlieferung<br />

noch durch Nachdenken sicher gestellt werden, nicht einmal durch die Sehnsucht des<br />

unvernünftigen Herzens. Der Glaube an Gott ist für den Mathematiker Pascal nicht mehr<br />

und nicht weniger als eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie der Gegenstand einer Wette.<br />

Offenbar ist Pascal selbst geneigt, an das Dasein Gottes zu glauben und darüber eine Wette<br />

einzugehen. Der Sinn ist etwa: ,,Der Teufel soll mich holen, wenn es keinen Gott gibt";<br />

mir scheint das nicht ganz die Sprache eines gläubigen Christen zu sein.

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