Band 4 - m-presse
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142 Viertes Buch. Vierter Abschnitt<br />
Versuch, den naiven Realismus des Nichtphilosophen wieder zu Ehren zu<br />
bringen. Hamilton, der 1788 geboren wurde, im gleichen Jahre wie Byron<br />
und Schopenhauer, naschte von der deutschen Philosophie, begriff etwas<br />
von der Erkenntniskritik und der Relativität des Wissens, lehnte das Absolute<br />
sehr gut ab, verlangte aber etwa wie Kant den Glauben an einen<br />
unerkennbaren Gott. Als ein mittelbarer Schüler Hamiltons ist noch der<br />
Balfour Staatsmann James Balfour (geb. 1848) anzusehen, der den naiven Realismus<br />
nicht bestreitet, sogar mit Recht für praktisch hält. So ist ihm die<br />
Gesetzlichkeit der Naturwissenschaft nicht bloß eine Täuschung, obgleich die<br />
letzten Fragen niemals gelöst werden, aber auch die Dogmen des Christentums<br />
sind vielleicht nicht ganz falsch, weil sie manches Bedürfnis befriedigen<br />
und über die beweisbaren Dinge hinausgehen.<br />
Bevor diese ironische Hegelei ("nicht alles Wirkliche muß unvernünftig<br />
sein") in England Regierungsweisheit wurde, kamen aber aus Frankreich<br />
zwei miteinander verwandte "Gedanken" hinüber: die Bewegungen des<br />
Sozialismus und des Positivismus. Der Sozialismus war, soweit er<br />
damals für England paßte, vorbereitet durch Bentham (geb. 1748, gest.<br />
1832), der gütig und unsäglich nüchtern unter dem klingenden Namen<br />
Deontologie den Utilitarismus verkündete und von seinem Meister Beccaria<br />
dafür die wohlwollende Formel entlehnte: das größtmögliche Glück<br />
für die größtmögliche Zahl von Menschen. Der eigentliche Sozialismus<br />
als wirtschaftspolitische Bewegung hat zwar in dem Industrielande England<br />
begonnen, hat aber dort erst viel später einige Macht erlangt, über<br />
den Marxismus hinweg. Und hat die Religion nicht, wie doch in Deutschland,<br />
für eine Privatsache erklärt.<br />
Viel mehr als der kontinentale Sozialismus ist den Engländern in<br />
Fleisch und Blut übergegangen der allgemeinmenschliche oder humanitäre<br />
Positivismus von Comte; der entsprach vorzüglich der alten Neigung der<br />
Engländer für den Nominalismus und den Empirismus. Der stärkste<br />
John Stuart englische Positivist war der Schöpfer der modernen Logik, John Stuart<br />
Mil1 Mill (geb. 1806, gest. 1873), den ich vorher als einen Gegner Comtes zu<br />
Worte kommen lassen mußte; er war aber ein ebenbürtiger Gegner und<br />
wurde darum zum Schüler des Mannes, dessen Verirrungen nur ihn<br />
empörten. Wir haben es hier allein zu tun mit Mills Stellung zur Religion;<br />
ich darf aber die Bemerkung nicht unterdrücken, daß Mill eigentlich mit<br />
seinem "System der vernunftgemäßen und induktiven Logik" (1843) der<br />
gesamten christlichen Theologie ein Ende machte (ohne es je zu sagen), da<br />
er ihre Wurzel vernichtete, die Logik des alten Aristoteles; ja auch den<br />
Ichbegriff hat Mill schon in seiner Erkenntnislehre abgelehnt, wie lange<br />
vor ihm Hume. Aber Mill hat auch seine Meinung über die Gottheit und<br />
John Stuart Mill 143<br />
was dazu gehört geordnet, und gerade da erweist er sich als ein Fortsetzer<br />
des Positivisten Comte.<br />
John Stuart Mill hat seine Gedanken über die Religion nicht selbst<br />
veröffentlicht; sie wurden bald nach seinem Tode (1874) von Helen Taylor<br />
herausgegeben. Die umfassendste dieser drei Abhandlungen, die über den<br />
"Theismus", ist kurz vor 1870 geschrieben und, vielleicht zu ihrem Glücke,<br />
nicht so sorgfältig durchgesehen und gefeilt wie die Schriften, die Mill selbst<br />
in Druck gab; er hatte die Gewohnheit, jeden Satz seiner Bücher nicht<br />
nur auf den genauesten Ausdruck hin nachzubessern, was das Studium<br />
seines Hauptwerks über die induktive Logik so schwierig und so fruchtbar<br />
macht, sondern auch auf englische Rücksichten hin, was mitunter verstimmt.<br />
Auch seine Abhandlung über den Theismus ist, obgleich die letzte<br />
Feile fehlt, vorsichtig genug abgefaßt. Ich will zuerst das Ergebnis<br />
seiner Untersuchung mitteilen. Mill bekennt sich sowohl der offenbarten<br />
als der natürlichen Religion gegenüber zum Skeptizismus; er will damit<br />
sagen, daß er das Dasein Gottes weder von vornherein leugne, noch die<br />
Beweise gegen das Dasein Gottes für bündig anerkenne. Nach seiner Logik<br />
gibt es sogar einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit für das Dasein<br />
irgendeines Schöpfers, dagegen keine Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein<br />
einer Vorsehung und für ein stets erneutes Eingreifen dieses<br />
Schöpfers, höchstens eine Möglichkeit. Alle diese Dinge werden aus dem<br />
Gebiete des Glaubens in das des Hoffens verwiesen; aber der Hoffnung<br />
auf unbewiesene Möglichkeiten, wie auf ein jenseitiges Leben, wird eine<br />
sehr wohltätige Wirkung zugeschrieben. In diesem Sinne sei an Christus,<br />
dem größten Reformator und Märtyrer, als einem Muster der Vollkommenheit<br />
und einem idealen Repräsentanten der Menschheit festzuhalten.<br />
Christus sei nicht Gott, aber möglicherweise wirklich mit der Aufgabe betraut<br />
(?) gewesen, die Menschheit zur Wahrheit und zur Tugend zu führen,<br />
darum seien die Einflüsse des Christentums auf die Sittlichkeit der Erhaltung<br />
wert. Einerlei, ob man diese Lehre Religion oder Humanität nennen wolle;<br />
sie gebe wenigstens das eine erhabene Gefühl, dem nicht allmächtigen<br />
Gotte beim Emporarbeiten der Menschheit freiwillige Mitwirkung zu leisten,<br />
also zu helfen. Mill ist geneigt, diesen seinen wunderlichen skeptischen<br />
Glauben für die Religion der Zukunft zu halten. Wieder einer. Wir wollen<br />
sehen, auf welchem Wege der Empirist und Logiker zu seinem Glauben<br />
gelangt und wollen uns in der Kritik auf einige kurze Fragen beschränken.<br />
Mill steht nicht mehr auf dem Standpunkte etwa der Enzyklopädisten,<br />
welche in der Negation oder der Bekämpfung des Aberglaubens, d. h. der<br />
Religion, das Heil der Menschheit sahen; unter dem Einflusse des verbesserten<br />
Historismus werden auch die Religionen als Momente der Ent