Band 4 - m-presse
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110 Viertes Buch. Zweiter Abschnitt<br />
der christlichen Einehe entfernte, daß je nachdem nur eine leichtere Lösbarkeit<br />
der Ehe oder die Emanzipation der Frau oder gar die Emanzipation<br />
des Fleisches verkündet wurde. Alle diese Neuerungen mußten<br />
den rechtgläubigen Zeitgenossen wiederum als Gottlosigkeiten erscheinen.<br />
Es würde zu weit führen, wollte ich darzustellen versuchen, wie sowohl<br />
Owen als Saint-Simon im Kampfe gegen den hergebrachten, allzu christlichen<br />
Eigentumsbegriff, im Kampfe gegen das Erbrecht, also das Erbelend,<br />
zu ihren neuen Idealen der Familie und der Ehe gelangten. Schon<br />
Owen hatte die Beziehungen zwischen der gewöhnlichen Ehe und den<br />
sozialen Gefahren des Privateigentums durchschaut und die Geldheiraten<br />
mit furchtbarem Hohne Priesterehen genannt (marriages of the Priesthood)<br />
; auf diese Priesterehen wälzte er die Hauptschuld ab für die Selbstsucht<br />
in den Familien und für die Prostitution außer der Familie. Nur<br />
die Möglichkeit und Bequemlichkeit der Scheidung könne zu einer wahren<br />
Ehe führen. In Frankreich, wo das Geschlechtsleben von jeher eine viel<br />
öffentlichere Angelegenheit war als in England, ertönte der Schrei nach<br />
der Emanzipation der Frau viel lauter und viel greller; er wurde, wohlgemerkt,<br />
zuerst nicht von den Frauen ausgestoßen, sondern von gierigen<br />
Männern. Es war ein Unglück für den edeln Saintsimonismus, daß einer<br />
der Lehrer dieser Schule, nach dem Tode Saint-Simons, der unsaubere<br />
Père Enfantin (geb. 1796, gest. 1864) diese unchristliche Agitation in die<br />
Massen warf, die sozialen Gedanken Bazards diskreditierte und dadurch<br />
der französischen Regierung willkommene Gelegenheit gab, den Saintsimonismus<br />
zu unterdrücken. Nebenbei, der Père Enfantin war kein Geistlicher,<br />
sondern früh und spät ein Spekulant; er erhielt den Beinamen Père,<br />
weil er als einer der Leiter einer geheimen Verbindung zu deren "pères<br />
suprêmes" gehörte und in dieser Eigenschaft jede Freiheit des Geschlechtsverkehrs<br />
für sich in Anspruch nahm. Auch er also ein Messias.<br />
In der Kritik der bestehenden und in der Arbeit an einer besseren<br />
Gesellschaftsordnung waren die beiden ungleichen Unchristen Owen und<br />
Saint-Simon einander ähnlich; beide sahen das einzige Heil in rücksichtslosem<br />
Fortschreiten, heraus aus der christlichen Gesellschaft. Es gebe kein<br />
Zurück. Owen hatte gesagt: "We cannot now return to our former state";<br />
Saint-Simon sagte: "Le seul moyen pour nous de sortir du b o u r b i e r est<br />
d'aller en avant." Aber ganz verschieden dachten sie, wenn auch beide unchristlich,<br />
über den sogenannten Geist der Geschichte. Der Engländer in<br />
seinem Wirklichkeitssinne wollte eine neue Zukunft schaffen, unbekümmert<br />
um die Vergangenheit. Der Franzose war mehr Rationalist, als er ahnte,<br />
glaubte — weil er die Geschichte für eine Naturwissenschaft hielt, für gleichwertig<br />
etwa mit der Astronomie oder mit der Chemie — an historische<br />
Saint-Simon 111<br />
Gesetze und legte so den Grund zu der falschen Geschichtsauffassung, die<br />
sehr bald bei Auguste Comte zu ebenso geistreichen wie phantastischen<br />
Konstruktionen, später bei Karl Marx zu der Zuversicht auf die notwendige<br />
Weltrevolution führte. Doch abgesehen von diesem Pochen auf die Notwendigkeit<br />
alles Geschehens, die er eben nur mit dem Walten historischer<br />
Gesetze verwechselte, hatte Saint-Simon eine tiefe Einsicht in die Bedeutung<br />
des Geistigen für die Entwicklung der Kultur. Er und seine reinsten<br />
Schüler hatten zum ersten Male begriffen, was den Wert des Mittelalters<br />
gegenüber der Zerrissenheit unseres Geschlechts ausmachte: die Einheit<br />
von Leben und Weltanschauung. Die Menschen des Mittelalters hatten<br />
so lange kein schlechtes Gewissen, wie sie an die christliche Grundlage ihres<br />
Lebens glaubten. Alle Einrichtungen zwischen den Menschen waren auf<br />
die Religion gestellt gewesen; alle diese Einrichtungen schwebten in der<br />
Luft, seitdem an der Festigkeit der Religion gezweifelt wurde und bevor<br />
man erkannt hatte, daß die neue Lehre (besonders die der materialistischen<br />
Geschichtsauffassung) in Wahrheit ein neuer Glaube war, ein neues<br />
Dogma mit neuer Verführungskraft; es war sinnlos, einen Ersatz<br />
schaffen zu wollen für die bisherige Grundlage der menschlichen Arbeit.<br />
Namentlich die Geisteswissenschaften ließen sich nicht so einfach durch<br />
einen religiösen Anstrich zu Stützen der Gesellschaft machen.<br />
Geistig niedriger, sittlich reinlicher als Saint-Simon war sein Schüler Fourier<br />
Charles Fourier (geb. 1772, gest. 1837), der den Saintsimonismus in der<br />
guten öffentlichen Meinung der französischen Radikalen für einige Jahre<br />
ablöste; er war äußerst wortabergläubisch, in seiner Unterwerfung unter<br />
alte Begriffe wie in der Erfindung einer neuen Terminologie. Dazu weniger<br />
ein Utopist als ein Phantast, der zu rechnen glaubte, wenn er träumte.<br />
Natürlich hielt auch er sich für einen Welterlöser, für den von Gott berufenen<br />
Messias. Als Kaufmann durch die Revolution zugrunde gerichtet, glaubte<br />
er sich vorherbestimmt, die Welt von der Lasterhaftigkeit des Handels zu<br />
überzeugen. Seit 1808 — um von Anfängerarbeiten nicht zu reden —<br />
veröffentlichte er rastlos Bücher über die Organisation der neuen Gesellschaft;<br />
als er in verbittertem Elend starb, blieben nur wenige Anhänger<br />
und sehr viele Spötter zurück. Sein genossenschaftliches Ideal, der Kommunismus<br />
der Phalansteren, blieb in verunglückten Experimenten stecken.<br />
Es ist aber blutiges Unrecht, den Geist dieses unpolitischen Rebellen etwa<br />
mit einem Urteile abzutun, wie: Größenwahn oder religiöser Wahnsinn;<br />
dafür gingen zu viele und zu starke Anregungen von ihm aus.<br />
Ganz unkirchlich, im Grunde unchristlich ist bei Fourier die Kritik des<br />
Geschlechts- und Familienlebens; man vernimmt bereits die Töne, die<br />
zwei Menschenalter später durch Ibsen das Aufhorchen der oberen Zehn