Band 4 - m-presse
Band 4 - m-presse
Band 4 - m-presse
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
134 Viertes Buch. Dritter Abschnitt<br />
eines wohlfeilen Traumes, alles beim Alten zu lassen. „Jetzt ist der alte<br />
Gott seiner Erdenherrschaft beraubt und jedes denkende Wesen verachtet<br />
oder leugnet ihn." Ein Sieg der himmlischen Revolution würde, das<br />
lehrte der Traum, nur einen Wechsel in der Person des Herrn herbeiführen.<br />
„Der besiegte Gott wird Satan, der siegreiche Satan wird Gott." Man<br />
mag die Nutzanwendung auf die Stellung machen, die France skeptisch<br />
zu politischen Revolutionen einnimmt.<br />
Schon vorher (1907) hatte France seinen politischen Roman geschrieben:<br />
„L'Ile des Pingouins". So unkünstlerisch, so liederlich im Aufbau,<br />
daß man sich ärgern könnte; übrigens so frei, wie kaum ein Franzose<br />
vor ihm. Er wagt es, die französische Armee und Kultur zu verhöhnen;<br />
er lacht sogar über Napoleon. In Zifferschrift hat er einem Zukunftsbilde,<br />
das den Roman schlecht genug abschließt, ein Motto vorgesetzt, worin er<br />
seinem Vaterlande das Härteste sagt, nicht so witzig wie Voltaire, nicht<br />
so ungeheuer wie Swift, fast pedantisch, aber tapfer. Ich setze dies Motto<br />
her: „Après s'être soustraite à l'autorité des rois et des empereurs, après<br />
avoir proclamé trois fois sa liberté, la France s'est soumise à des compagnies<br />
financières qui disposent des richesses du pays et par le moyen<br />
d'une <strong>presse</strong> achetée dirigent l'opinion. Un témoin véridique."<br />
Die künstlerische Schwäche des groß geplanten Buches besteht nun<br />
darin, daß France seinen Ausgangspunkt, der wirklich lustig ist wie ein<br />
Einfall Voltaires und toll wie ein Losbruch Swifts, in der Mitte und gar<br />
am Ende seiner pinguinischen Chronik vergessen, einfach vergessen zu haben<br />
scheint. Dieser Einfall richtet sich lachend gegen die Kirche, zunächst gegen<br />
die katholische Kirche, dann gegen Gott, gegen den Gott der Christen.<br />
Auf einer Eismeerinsel tauft ein kurzsichtiger Heiliger eine Herde von<br />
Pinguinen; die folgende Beratung vor dem Angesichte Gottvaters ist<br />
köstlich, darüber: was mit den getauften Tieren zu geschehen habe. Sie<br />
erhalten durch ein Wunder Menschengestalt, durch ein zweites Wunder<br />
wird die Insel nach dem Süden geschleppt. Die Pinguine sind die Stammeltern<br />
der Franzosen; unter einer Maske, die immer wieder nachlässig<br />
gelüftet wird, erfahren wir die Geschichte Frankreichs, bis zum Dreyfusprozeß,<br />
bis zum Kriege von 1870 und noch viele Jahre darüber hinaus.<br />
In den Bosheiten ist die Scheidelinie zwischen Antichristentum und<br />
Atheismus nicht immer scharf gezogen. Wie sich die hübsche Pinguine<br />
Rosenarsch aus einem Hürlein zu einer wundertätigen Heiligen und zur<br />
Schutzpatronin von Frankreich entwickelt — äußerst vorsichtig wird auf<br />
die Jungfrau von Orleans angespielt —, das geht allerdings nur gegen<br />
die römische Kirche und die Protestanten könnten lachen; aber die Peitschenhiebe<br />
gegen die Verfolgungswut der Frommen zielen doch weiter<br />
Anatole France 135<br />
und das heidnische Bekenntnis, das einmal von Virgil abgelegt wird,<br />
richtet sich doch schon gegen den alten Judengott überhaupt. „Man versichert<br />
mich, daß seine Macht im Niedergang begriffen sei, daß man aus<br />
sicheren Anzeichen erkenne, er sei seinem Sturze nahe." Der Herrgott<br />
selber spricht, eben in der Beratung über die Folgen der Pinguinentaufe,<br />
von seiner blinden Voraussicht: „Dans mon aveugle clairvoyance je<br />
me laisse surprendre par ce que j'ai prévu". Scherze über die Polygamie<br />
Gottes sind darum nicht weniger blasphemisch, weil sie nicht recht<br />
gelungen sind.<br />
Swift war ein Menschenverächter bis an die Grenze des Wahnsinns,<br />
Voltaire war ein Menschenfreund bis nahe an die Grenze der Größe,<br />
France ist nur ein bewußter Spötter und kann die Wirkungen der beiden<br />
nicht erreichen, die aus dem Unbewußten entspringen. Er hat zu viel<br />
gelesen, er ist zu klug, um sich über sich selbst zu täuschen. In seine Darstellung<br />
des Dreyfusprozesses — die ganz und gar nicht mehr pinguinisch<br />
ist — hat er mit gutem Übermut nicht nur den stiernackigen Zola hineinkomponiert,<br />
sondern auch seine eigene Gestalt. Einen Sternbeobachter,<br />
von den Fachgenossen nicht anerkannt; er hält sich für erhaben, während<br />
er nur einen reinen Willen hat. Er hat seine Illusionen verloren; die<br />
Arbeit, das Unrecht gutzumachen, ist ihm zu hart; man müßte immer<br />
von vorne anfangen; da kehrt er bescheiden zu seinen Sternbeobachtungen<br />
zurück. Er glaubt nicht mehr an einen Fortschritt der Menschheit, also<br />
auch nicht an einen Sieg der Aufklärung, der er sein Leben weihen wollte.<br />
Vielleicht hat France etwas von der "Wiederkehr des Gleichen"<br />
läuten gehört, die bei Nietzsche immerhin tiefere Sehnsüchte aufwühlen<br />
kann. Bei dem Franzosen verflacht sich diese Phantasie zu dem Glauben<br />
an einen banalen Kreislauf des Völkerschicksals. Nach einer unerhörten<br />
Katastrophe sinkt die Menschheit in den Zustand des Tiers zurück, um<br />
langsam wieder über Jahrtausende zu einem vermeintlichen Gipfel der<br />
Kultur emporzuklimmen; Berg und Tal wechseln ab wie — man erinnere<br />
sich an den Schluß von „Révolte des Anges" — Gott und Satan. „Der<br />
besiegte Gott wird Satan, der siegreiche Satan wird Gott." Da lohnt<br />
es sich freilich nicht, irgendeinen alten Götterdienst erst mit Lebensgefahr<br />
umzustoßen.<br />
Aber es spricht doch für die unbewußte Einheit in der Leistung von<br />
Anatole France, daß er auch in kleinen Schriften als Befreier wirkt, als<br />
Befreier einer Menschheit, der doch nicht zu helfen ist. Kaum noch zu<br />
überbieten scheint der Hohn der Gottesleugnung, der in einer ganz kleinen<br />
Geschichte, „Putois", hinter mangelhafter Ironie verborgen ist. Das<br />
kleine Stück steht in der Sammlung, die durch die erste der Titelerzählungen