Band 4 - m-presse
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368 Viertes Buch. Neunter Abschnitt<br />
Schrift dankbarst deren Mutter." Auf die Ideen kommt es an; wir sollten<br />
bei den Geistesbefreiern der jüngsten Zeit das Persönliche nicht, weil wir<br />
es besser zu kennen glauben, stärker hervorheben als bei den Kämpfern<br />
früherer Jahrhunderte.<br />
Paul Rée Nicht nur weil er einer der ersten Anhänger von Nietzsche gewesen<br />
war, gehört Paul Rée hierher, und an diese Stelle, sondern als einer der<br />
stärksten Anreger Nietzsches, und weil er die atheistische Tendenz der Zeit<br />
— ein Jahrhundert nach der großen Revolution — noch deutlicher ausspricht<br />
als selbst Nietzsche: ohne die Genialität und Sprachkraft seines großen<br />
Rivalen, dafür um so nüchterner und logischer. Auf die traurigen Menschlichkeiten<br />
mag ich wieder nicht eingehen. Was die beiden seltenen Wahrheitsucher<br />
Paul Rée (seit 1874) und Frau Lou Andreas (seit 1882) mit dem<br />
unglücklichen Menschensucher Nietzsche verband, ist deutlich; was sie nach<br />
kurzer Zeit auseinander trieb, hat sicherlich nichts zu tun mit ihrem<br />
geistigen Schaffen. Frau Lou und Paul Rée sind von Nietzsches leiblicher<br />
Schwester häßlich angegriffen worden; hätte Frau Lou geantwortet, so<br />
wäre die Sache für mich entschieden gewesen; sie gab an Wahrheitsliebe<br />
und Vornehmheit selbst dem Umwerter nichts nach. Nur daran möchte<br />
ich weiter erinnern, für das Verhältnis zwischen Nietzsche und Rée, daß<br />
Rée für den sich selbst langsam entdeckenden Philosophen ein Meister der<br />
Seelenprüfung war, daß er ihn einen „der kühnsten und kältesten Denker"<br />
nannte, daß er von Rée zuerst den Mut zum Aphorisma übernahm und vor<br />
allem eines seiner Leitmotive: die darwinistische Herleitung der moralischen<br />
Empfindungen. Das was Nietzsche mit einem seiner Wortspiele seinen<br />
"Réealismus" nannte. Und auch diese Inkonsequenz wird uns an dem<br />
"Gelegenheitsdenker" Nietzsche nicht überraschen und nicht betrüben, daß<br />
er, der in einer seiner ersten und besten Schriften den Historismus siegreich<br />
bekämpft hatte, sich jetzt — vorübergehend — bei dem Gedanken Rées<br />
befriedigte: Moral wie Recht und Sprache (Schleichers Anwendung des<br />
Darwinismus auf die Sprachwissenschaft war schon 1863 vorausgegangen),<br />
kurz alle Probleme der Völkerpsychologie seien evolutionistisch zu erklären.<br />
Außer Darwin war Spencer ein Lehrer Rées gewesen. Was bei Nietzsche<br />
nur eine Periode seines Denkens war, wurde für Rée zu einem System:<br />
wie der Pithecanthropus alalus zu einem homo sapiens oder loquax geworden<br />
war, so wurde aus dem amoralischen \greek{^^}, der gläubige, der<br />
"gute" Mensch. Rée hatte die Genealogie der Moral entdeckt, die auf Nietzsche<br />
so mächtig wirkte: die geschichtliche Entstehung des Gewissens und<br />
anderer moralischer Begriffe.<br />
Das aber darf nicht verkannt und nicht verschwiegen werden, daß<br />
der oft übel beurteilte Rée (nur Richard M. Meyer, in seinem Nietzsche-<br />
Paul Rée 369<br />
Buche, ist ihm gerecht worden) den Atheismus noch sicherer und ruhiger<br />
bekannt und begründet hat als der Antichrist Nietzsche. Das Stärkste findet<br />
sich in der "Philosophie", einem wenig gelesenen Buche, das 1903 als<br />
nachgelassenes Werk herauskam und leider als Anhang auch einen krankhaft<br />
häßlichen Brief Rées über Nietzsche brachte.<br />
Da stehen (S. 81—87) einige kühne und kalte Aphorismen über die<br />
Entstehungsgeschichte der Gottheit. "Menschliche Furcht erschafft die<br />
Götter, menschliche Naivität schafft sie menschenähnlich." Die Blitzer.<br />
"Mit den Kulturgöttern verhält es sich ebenso wie mit den Naturgöttern.<br />
Die Naturgötter sind das Ebenbild der Naturmenschen, die Kulturgötter<br />
das Ebenbild der Kulturmenschen. Erst gelangen die Menschen zur<br />
Kultur, dann wird Gott nachgeholt, auch kultiviert; die Kultur beleckt auch<br />
die Götter." Die Götter waren immer in der Kultur zurück; was schon<br />
Lukianos wußte. Sie wurden nachgeholt, modernisiert.<br />
In einem vorzüglich erkenntniskritischen, ganz idealistischen Aufsatze<br />
über die "Materie" heißt es dann (S. 117) : "Dieser Gott, eine hingeworfene<br />
Behauptung, ein toller Einfall, ist besonders darum unakzeptabel, weil er<br />
ein selbständig objektiv Existierender ist, während die philosophische Betrachtung<br />
zu einem Subjektiven in infinitum führt."<br />
In den "Gedanken" (S. 341—344) sagt er sein letztes Wort. Der<br />
Gläubige habe wie jeder Verrückte ein wohlgegliedertes System von Wahnideen;<br />
"Religion ist die Geisteskrankheit der Gesunden." — "Ein Philosoph,<br />
welcher die Religion verteidigt, ist kein Philosoph." — "Die Wissenschaft<br />
spricht: Ist die Religion wahr? Nein. Dann ist es mir gleichgültig, ob<br />
sie nützlich oder schädlich ist."<br />
Endlich in den blendend geschliffenen, nur vielfach übertreibenden<br />
Aphorismen über "die Eitelkeit", die auf Rées eigenes Schaffen ein böses<br />
Licht werfen, versteigt er sich (S. 208) zu dem Unsinn, dem Gotte die Eitelkeit<br />
der Kulte vorzuwerfen. "Gottes Freude über Verehrung und Anbetung<br />
kann als Anthropomorphismus maximus bezeichnet werden. Im Menschen<br />
entsteht aus der Freude am Angebetetwerden wegen des damit verbundenen<br />
Nutzens durch Angewohnheit Freude am Angebetetwerden selbst. Sollte<br />
sich in Gott derselbe Angewöhnungsprozeß vollzogen haben?" Man fühlt<br />
doch die sprachliche Verkehrtheit? In jeder solchen Blasphemie steckt ein<br />
Rest von Gläubigkeit. Nietzsche und Rée hätten die Sprachkritik gefunden<br />
und ausgebildet, wenn sie nicht, beide, ihre Zähne an den moralischen Begriffen<br />
gestumpft hatten.<br />
Ich habe schon bei Gelegenheit einer Würdigung des rebellischen<br />
Wahrheitsdichters Shelley auf den Franzosen Taine und auf seinen betrieb