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Band 4 - m-presse

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90 Viertes Buch. Erster Abschnitt<br />

archalischen Absolutismus. Die Schlagworte der Revolution mögen Selbsttäuschung<br />

gewesen sein, die Schlagworte der Heiligen Alliance waren<br />

Lügen. Das gemeinsame Christentum, in welchem das griechische Rußland,<br />

das (in der Spitze) katholische Österreich und das protestantische Preußen sich<br />

brüderlich zusammenfinden wollten, gab und gibt es nicht im Reiche der<br />

Wirklichkeit, nicht einmal unter den Gedankenwesen, kaum als eine Kultureinheit<br />

oder Christenheit, an welche die verschworenen Monarchen arm<br />

wenigsten dachten. Napoleon, der Vollender der Revolution, hatte den<br />

Papst wieder einzusetzen gewagt; die Heilige Alliance schloß den Papst wie<br />

den Sultan von ihrem Bunde aus; er hätte die Religion am Ende ernst<br />

nehmen können. Was die Fürsten Europas seit Macchiavelli lachend und<br />

mit gutem Gewissen getan hatten, daß sie nämlich die Gläubigkeit des<br />

Volkes als eines der Werkzeuge der Herrschaft benützten, das geschah im<br />

Namen der Heiligen Alliance weinerlich und mit schlechtem Gewissen. Wir<br />

leben heute noch im Zustande der religiösen Heuchelei der Machthaber.<br />

Und weil die Macht des Staates, trotz aller Verfassungen, extensiv und intensiv<br />

größer geworden ist, weil das studierte Bürgertum (Beamte und<br />

Gelehrte) sich der Allmacht des Staates mehr und mehr zu fügen gelernt<br />

hat, darum hat sich im 19. Jahrhundert eine widerliche religiöse Heuchelei<br />

über den gesamten Mittelstand ausgebreitet. Die Freidenker, die Unchristen,<br />

die Atheisten würden, wenn eine Volkszählung nach ehrlichen Bekenntnissen<br />

stattfinden könnte, die Mehrheit ausmachen; aber die allgemeine<br />

Heuchelei erregt den Schein, als ob die Mehrheit bei den Kirchen wäre.<br />

Nicht ganz so ausgeprägt war das Verhältnis gleich nach den Freiheitskriegen,<br />

als die Heilige Alliance gegen alle Volksfreiheiten gegründet wurde;<br />

aber schon damals hatten die Grundsätze der großen Revolution wenigstens<br />

die Intellektuellen Europas für die Dauer erobert. Daher kam es, daß der<br />

Kampf der Freidenker im 19. Jahrhundert überall nicht mehr wie einst<br />

ein Kampf gegen die Dummheit des Pöbels und die Herrschsucht der Kirche<br />

war, sondern zum großen Teile ein Kampf gegen die Heuchelei des Staates<br />

wurde. Nicht mehr Aufklärung war die Aufgabe, die das neue Jahrhundert<br />

den führenden Geistern zu stellen schien. Die Aufklärung hatte ihren Kreislauf<br />

vollendet, hatte der Philosophie und der Geschichte fast nichts mehr<br />

zu tun übrig gelassen; es war fast nur noch eine Wirkung des Trägheitsgesetzes,<br />

wenn in den Niederungen des Schrifttums, in den liberalen Zeitungen,<br />

besonders seit 1830 und dann wieder seit 1848, die Ideen der<br />

englischen und französischen Aufklärung weiter spukten, wenn endlich, in<br />

Deutschland erst seit 1870, die sozialdemokratische Agitation die Massen des<br />

vierten Standes, auch wohl die Bauern für die Aufklärung zu erobern<br />

suchte. Aber wieder war es Heuchelei bei vielen Gelehrten, als sie,<br />

Aufklärung 91<br />

angeblich im Namen einer höheren Einsicht, jetzt die gute alte Aufklärung<br />

zu einem schimpflichen Aufkläricht machten, im Dienste der kirchlichen und<br />

politischen Reaktion. Die Feuerbach, Büchner und Haeckel waren freilich<br />

geistig rückständig, so oft sie sich auf das Gebiet der Erkenntnistheorie vorwagten;<br />

neue freie Denker hatten das Recht, sie zu bekämpfen; für<br />

die Halbgebildeten unter den Parlamentariern und Zeitungsschreibern<br />

hätte das Wort Aufklärung noch lange seinen guten Klang behalten<br />

müssen.<br />

Die Bedeutungsgeschichte dieses Wortes — dessen Verkünder und Aufklärung<br />

auch Götzendiener uns so lange beschäftigt haben — ist, wenn man bei der<br />

Wortgeschichte nicht stehen bleibt, überaus lehrreich. Schon Lessing stand<br />

in jedem Aufschwung seines überlegenen Geistes abseits von seinen aufgeklärten<br />

Freunden; vollends Kant war viel zu tiefsinnig, um nicht noch<br />

freier zu sein als der gesamte Rationalismus und dessen Aufklärung. Aber<br />

Kant hatte ja die beste und günstigste Definition des Begriffs geprägt.<br />

Der Teil der Menschheit, an den sein Ruf ging: "Habe Mut, dich deines<br />

eigenen Verstandes zu bedienen!", nennt sich nicht mehr aufgeklärt, weil<br />

er mehr ist als aufgeklärt. Der andere Teil der Menschheit scheint unbelehrbar.<br />

Unduldsam geblieben sind diese Frommen und besonders deren Anführer<br />

und Ausbeuter; unduldsam sind auch die letzten Erben der Aufklärungszeit,<br />

die Materialisten, weil auch sie Dogmatiker sind. Wenn ich<br />

fernerhin "wir" sagen werde, so meine ich uns, die wir die Aufklärung<br />

überwunden haben.<br />

Wir stehen also im 19. Jahrhundert vor der neuen Erscheinung, daß die<br />

Skepsis, die sich bald Agnostizismus nennen sollte, nicht mehr im alten<br />

Glauben den Hauptfeind erblickte; der schien für die weltfremden Augen<br />

der freiesten Geister für immer besiegt; die Skepsis stellte sich auf ihrer Höhe<br />

die vielleicht verfrühte Aufgabe, nun auch gegen das neue gottlose Dogma<br />

zu streiten, gegen den dogmatischen Materialismus, der heute den Namen<br />

Monismus tragt. Die Führer zur Gottlosigkeit, zumeist in Deutschland,<br />

Frankreich und Italien, gewannen den Eindruck, als fiele ihnen diese erkenntnistheoretische<br />

Skepsis verräterisch in den Rücken; ja, sie setzten auch<br />

bei diesen Gegnern etwas wie Heuchelei voraus und ahnten nicht, daß die<br />

Aufklärung in einem matten, selbst oft heuchlerischen, wässerigen Deismus<br />

stecken geblieben war, daß die endgültige Auflösung des Gottesbegriffs just<br />

der entschiedensten Skepsis vorbehalten blieb, der Sprachkritik. Mit um so<br />

heftigerer Erbitterung machten sich die gottlosen Popularschriftsteller daran,<br />

im Genusse gesteigerter Freiheit die Bevormundungen abzuschütteln, die<br />

eine — wiederum heuchlerische — Gesetzgebung gegen das freie Denken<br />

festzuhalten oder neu zu errichten suchte.

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