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Band 4 - m-presse

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126 Viertes Buch. Dritter Abschnitt<br />

Schließlich erweist sich der kühne Freigeist Quinet als ein Deist von<br />

ganz besonderer Art: sein Gott ist zwar so gut wie unpersönlich, aber er ist<br />

ein französischer Gott; die Ereignisse der Weltgeschichte sind allesamt, wenn<br />

Quinet auch diesen Schluß nicht gezogen hat, gesta Dei per Francos. „Es<br />

ist offenbar, daß die Niederlage von Waterloo eine Fügung des Himmels<br />

war." Der Katholizismus habe es versäumt, durch rechtzeitigen Anschluß<br />

an die Revolution liberal oder demokratisch zu werden; er werde darum in<br />

der übrigen kleinen Welt als eine Sekte weiter bestehen, aber er werde aufhören,<br />

die Seele oder die Religion Frankreichs zu sein.<br />

Ich habe den kleinen Dichter und tüchtigen Professor Quinet, den wir<br />

bereits als einen der liberalen Führer gegen die Jesuiten kennen gelernt<br />

haben, anstatt vieler seiner Landsleute zu Worte kommen lassen, weil er<br />

bezeichnend ist für den Mischmasch von Politik und Religionskritik, der in<br />

Frankreich, dem sonst so radikalen Lande, das Bedürfnis der Halbgebildeten<br />

zu befriedigen schien. Auch die Religionsphilosophie machte nicht vollen<br />

Ernst; noch ein Menschenalter nach der Julirevolution christelte Renan<br />

sentimental, wo bei uns Reimarus und Strauß die Grundmauern gestürzt<br />

hatten; es ist bezeichnend für den Rückschritt, den Frankreich seit der Restauration<br />

gemacht hatte, unter der Gegenrevolution der Jesuiten, daß sein<br />

"Leben Jesu" (1863) ein solches Aufsehen erregen konnte. An solchen<br />

Halbheiten hatte man sich außerhalb Frankreichs längst die Schuhsohlen<br />

abgelaufen. Nur in der anmutigen Form übertraf Renan seine deutschen<br />

Lehrmeister; aber sogar hinter seiner skeptischen Keckheit wie: „Alles ist<br />

möglich, selbst Gott!" verbirgt sich eine gewisse Bereitwilligkeit, Kompromisse<br />

zu schließen. Vollends die Dichter und die Journalisten spielten nur<br />

mit der Geistesbefreiung; das Erbe der Enzyklopädisten war über den Rhein<br />

ausgewandert, war an das junge Deutschland und zu den Religionsfeinden<br />

um Feuerbach gelangt; der Kreis, der in Paris für die romantische Dichtung<br />

gekämpft hatte, war in das Philistertum der Form geflüchtet oder hatte im<br />

romantischen Sozialismus des Saintsimonismus ein politisches Feld gefunden.<br />

Auch Victor Hugo (geb. 1802, gest. 1885), den die Franzosen ohne<br />

Distanzgefühl neben Shakespeare und Goethe stellen, verkündete sechzig<br />

Jahre lang nur eine Mosaikreligion, zu welcher die Bibel, die große Revolution<br />

und gegohrene Überreste deutscher Philosophie Beiträge liefern<br />

mußten. Das französische Volk hatte nichts dagegen, daß seine Regierungen<br />

in der Kirchenpolitik schwankten zwischen Atheismus und Kompromissen,<br />

die einem Konkordat ähnlich sahen. Man liest in Frankreich<br />

immer noch Hugos "Légende des s i è c l e s " , man liest längst nicht mehr<br />

Quinets "Ahasvérus", beide Epen haben aber verwandte Züge: sie<br />

glauben wieder einmal (wie die Theophilanthropen nach der Revolution)<br />

Renan 127<br />

das Christentum dadurch abzuschaffen, daß sie dem Genius der Menschheit<br />

einen Tempel errichten und an seinen Wänden die beliebtesten Bibelsprüche<br />

anbringen.<br />

Victor Hugo reicht mit seinem langen Leben und seinem unermüdlichen<br />

Schaffen bis weit über die Regierung "Napoleon des Kleinen" in<br />

die dritte Republik hinein. Er hat es noch mit erfahren, wie die erneute<br />

jesuitische Philosophie in Frankreich durch die aus England übernommenen<br />

Gedanken der Evolution bekämpft wurde. Ein eigener Denker ist da nicht<br />

erstanden, weder in Elme Caro noch in seinem Nachfolger, dem auch<br />

in Deutschland vielgenannten Schönredner Bergson; doch durch wertvolle<br />

Spezialarbeiten haben Littré und Guyau, Taine und auch Renan,<br />

Tarde, Ribot und Claude Bernard die schöne Literatur befreien und die<br />

Publizistik heben geholfen. Wieder einmal ging von Frankreich, besonders<br />

nach der Niederlage von 1870, eine Bewegung aus, die sich für einige Jahrzehnte<br />

die Welt eroberte: der erdgeborene, ganz gottlose Naturalismus.<br />

Der Führer war erst der starke Zola, gegen dessen Verdienste ich einst nicht<br />

gerecht war, weil ich zu ungeduldig war, es zu erleben, daß die deutsche<br />

Dichtung durch den Naturalismus hindurchkäme, nicht an ihm vorbei; der<br />

Prophet des Naturalismus (und des überlegenen Skeptizismus in allen<br />

geistigen Dingen) war Gustave Flaubert (geb. 1821, gest. 1880), der Dichter Flaubert<br />

von „Salammbô" und von "La tentation de saint Antoine"; ich darf nicht<br />

einmal bei dieser heimlich lachenden, ganz antichristlichen Schrift verweilen.<br />

Nur ein Wort will ich versuchen über einige seiner intimen Briefe<br />

und über sein letztes Werk.<br />

Flauberts Briefe an George Sand sind köstlich durch ihre Herzlichkeit,<br />

ihre Heftigkeit und ihre Offenheit. Unbestochen von der Tagesmeinung,<br />

beobachtet Flaubert Menschen und Dinge und hat selbst während des<br />

deutsch-französischen Krieges für seine Landsleute oft härtere Worte als<br />

für die Preußen. Er ist auch in der Politik ein ausgesprochener Nominalist;<br />

die Parteigänger des Kaiserreichs und der Republik scheinen ihm ebenso<br />

dumm wie die Streiter für die grâce efficace und die grâce efficiente. "A<br />

bas les mots! Plus de symboles ni de fétiches! Die Wissenschaft soll über<br />

die Politik entscheiden, natürlich auch über religiöse Fragen. Er lernt den<br />

theologisch-politischen Traktat von Spinoza kennen und wird hingerissen<br />

von Begeisterung. "Nom de Dieu! quel homme! quel cerveau! quelle<br />

science et quel esprit! Il était plus fort que M. Caro, décidément."<br />

Er glaubt nicht an ein Jenseits. "In dieser Frage der Unsterblichkeit<br />

tauscht man nur Wörter aus, denn ob das Ich bestehen bleibt, das ist die<br />

Frage. Sie zu bejahen scheint mir eine Unverschämtheit unseres Stolzes,<br />

eine Auflehnung unserer Schwäche gegen die ewige Ordnung."

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