Band 4 - m-presse
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330 Viertes Buch. Neunter Abschnitt<br />
Shelley nicht nur eine allgemeine Kenntnis von Spinoza besaß, daß er<br />
vielmehr offenbar die Ethik, den Traktat und die Briefe aufmerksam gelesen<br />
hatte, als darauf, daß er keine höhere Andacht kannte als die zur Natur,<br />
daß er in der Natur die große Mutter verehrte, die einzige Gottheit,<br />
nirgends freier und schöner als in der völlig heidnischen Totenklage auf<br />
seinen Genossen John Keats, in der Dichtung „Adonais".<br />
Der Pantheismus Spinozas, der dem engherzigen Puritanismus so<br />
stracks widersprach, war erst aus Deutschland nach England gekommen, als<br />
Dichtung durch Goethe, als Philosophie (schon seit Anfang des Jahrhunderts)<br />
durch den damals noch eng mit Hegel verbundenen Schelling.<br />
Hegel So kehren wir denn doch wieder zu Hegel zurück, um jetzt einen Augenblick<br />
uns darauf zu besinnen, daß doch manches, was wir als fremde Einflüsse<br />
seit ungefähr 1850 zu buchen haben, wiederum auf Hegel zurückgehen mag.<br />
Selbst wo das „Entweder-Oder" der Skandinavier und Russen dem "Sowohl-Als-auch"<br />
Hegels schroff gegenüberzustehen scheint, sollten wir nicht<br />
vergessen, daß Hegels Scharfsinn zwar die Versöhnung der Gegensätze (im<br />
Leben) verlangte, aber vorher die Gegensätze selbst (im Denken) unübertrefflich<br />
herauspräpariert hatte. Die Ausländer waren nur nicht so weich<br />
wie die friedlichen Deutschen. Ich wähle zu einem lehrreichen Beispiele<br />
einen deutschen und einen französischen "Ästhetiker", die beide auf ihre<br />
Zeit und noch auf die Gegenwart mächtig gewirkt haben: Vischer und<br />
Taine. Vischer, ein getreuer Schüler Hegels, ist noch in seiner sehr lesenswerten<br />
Kritik vom "Alten und neuen Glauben" seines Freundes Strauß<br />
so schwach, daß er, um das "Volk" zu schonen, für Halbheit eintritt und so<br />
die Forderung der Zeit verkennt. Taine, an den Hegel fast nur wie eine<br />
fremde Melodie herangetreten war,*) ist ein freierer Schüler der deutschen<br />
Philosophie und hat (von seinem amüsanteren Nachahmer Georg Brandes<br />
sekundiert) die europäische Revolution der Literatur unterstützen helfen;<br />
Hippolyte Taine hat die Poesie von der Magie losgelöst, von der Magie,<br />
die nicht mit Mystik verwechselt werden soll.<br />
Es ist hergebracht und es ist bequem, die Bedeutung und die Nachwirkung<br />
Hegels so darzustellen, als ob er im Besitze der parteilosen Wahrheit<br />
gewesen wäre, als ob die Rechtshegelianer einseitig sein christliches, die<br />
Linkshegelianer ebenso einseitig sein gottloses Begriffsgebäude weitergeführt<br />
hätten. Selbst diese Darstellung steht noch allzusehr unter dem<br />
*) Er wird von den Franzosen unter die Positivsten oder auch unter die Deterministen<br />
eingereiht. Er war aber ein Eigener; und es ist nicht das geringste seiner Verdienste um die<br />
Wahrheit oder Wahrhaftigkeit, daß er, der freie Schriftsteller Taine, in Frankreich der Geltung<br />
des elenden Hegel-Ersatzes, des gelehrten Schwätzers Victor Cousin, bei einem neuen Geschlechte<br />
ein Ende machte.<br />
Hegel 331<br />
Einflusse von Hegels Methode. Dem unbefangenen Blicke kann es nicht<br />
zweifelhaft sein, daß Hegel selbst, im Tiefsten und Letzten doch unehrlich,<br />
im Bekenntnismute, ein Rechtshegelianer war, daß er christelte, daß er<br />
nicht etwa die Religion Jesu Christi, sondern die späte Dogmatik der christlichen<br />
Religion (auch die Dreieinigkeit) logikalisch bewies und dafür zum<br />
herrschenden Staatsphilosophen ernannt wurde—daß er aber doch,<br />
unerhört scharfsinnig in seinem virtuosen Spiele mit abstrakten Begriffen,<br />
die Bahn gewiesen hat, die dorthin führte, wo sich die Religion in eine bewußte<br />
Geschichte der Religion verwandelte. Die Linkshegelianer, nicht<br />
nur Strauß und Feuerbach, waren von anderswoher bekenntnismutige<br />
Antichristen geworden, waren aber so abhängig von der logischen Stärke<br />
Hegels, daß sie ernstlich glaubten, noch Hegelianer zu sein, da sie die Dogmen<br />
und die Grundlagen des Christentums wegkritisierten. Wie Marx noch<br />
ein Hegelianer zu sein glaubte, da er die idealistische Geschichtsauffassung<br />
Hegels, groß und falsch, durch eine materialistische ersetzte. Die Bedeutung<br />
Hegels in der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts ist unermeßlich;<br />
seine Bedeutung in der Befreiungsgeschichte des religiösen Menschen ist<br />
dagegen so erbärmlich, daß sie sich meines Erachtens in so kurzen Bemerkungen<br />
erschöpfen läßt. Er übertraf an Geist wie an Unehrlichkeit<br />
sogar den Staatsphilosophen Leibniz.<br />
Seine Wirkung auf Deutschland war ungeheuer, nicht nur bis 1848,<br />
eigentlich bis in die Gegenwart hinein, direkt durch die beiden feindlichen<br />
Schulen, die sich nach ihm nannten, indirekt durch die unerhörte Kühnheit,<br />
mit der er Historiker und Volkswirte, Ästhetiker und Theologen, Juristen<br />
und sogar Dichter Begriffe durcheinanderwirbeln gelehrt hatte. Die<br />
Wirkung auf das Ausland war — abgesehen von einigen Fachphilosophen<br />
in England und Frankreich — fast niemals direkt; aber das Ansehen Deutschlands,<br />
das man seit Bulwer gern das Volk der Dichter und Denker nannte<br />
(seit 1837), war schon durch Goethe, durch Kant und durch die Freiheitskriege<br />
so gestiegen, daß die deutsche Philosophie nach langer Pause wieder<br />
den Westen zu beeinflussen begann. Und Hegel galt durch Jahrzehnte<br />
für den deutschen Philosophen; auf Kredit, denn lesen konnte man seine<br />
Schriften nicht. Nicht seine schweren Gedankengänge, fast nur die letzten<br />
verblüffenden Sätze seiner geistreichsten Fortsetzer gelangten nach dem<br />
Auslande, um von da aus — nicht immer unter Hegels Namen — ihren<br />
Weg durch die Welt zu machen. Ihren Weg auch nach dem Norden und<br />
nach dem Osten.<br />
Für den Norden, besonders aber für sein Vaterland Dänemark, hat<br />
Sören Kierkegaard (geb. 1813, gest. 1855) die Begriffsrevolution Hegels<br />
aufgenommen, mehr noch unbewußt als bewußt, mehr noch Dichter als