Band 4 - m-presse
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262 Viertes Buch. Siebenter Abschnitt<br />
vielleicht Dichter, eigentlich nicht einmal Denker. Es mag rührend sein:<br />
Hoffmann von Fallersleben, der Dichter des Liedes "Deutschland, Deutschland<br />
über alles" (des harmlosen alten Liedes, das 1914 so arg verleumdet<br />
worden ist), begann 1848 seine Kinderlieder niederzuschreiben; und Rudolf<br />
Löwenstein, einer der Redakteure des Witzblattes von 1848, des "Kladderadatsch",<br />
ist nur als Kinderliederdichter lebendig geblieben.<br />
Nein, im tollen Jahre Deutschlands dachten die Führer (wenn es<br />
da Führer gab) gar nicht an eine Befreiung von der Kirche; das überließen<br />
die Politiker den Philosophen, den Materialisten, den freisinnigen Theologen,<br />
die wiederum wenig Einfluß auf die Bewegung nahmen. Und so<br />
wirr gestalteten sich die Parteien (stritten doch die Dichter —Freiligrath<br />
und Herwegh — in ihren Reimen selbst darüber, ob sie auf einer höheren<br />
Warte stünden als auf den Zinnen der Partei), daß einer der Begabtesten<br />
der Zeit, Wilhelm Jordan, 1848 ein aktiver Politiker, nachher nur Dichter,<br />
zugleich Gegner der Revolution und — beinahe — atheistischer Aufklärer<br />
werden konnte.<br />
Wilhelm Im Vormärz schien Wilhelm Jordan (geb. 1819, gest. 1905) religiös<br />
Jordan und politisch auf dem gleichen Boden zu stehen wie das "junge Deutschland";<br />
auch er war ein Polyhistor wie Gutzkow, auch er schwärmte für die<br />
Größe und Einheit Deutschlands, auch er wurde um seiner radikalen Dichtungen<br />
willen verfolgt („Glocke und Kanone", 1841); im Jahre 1848 in die<br />
Paulskirche gewählt, trat er in die Reichsregierung ein als Leiter der noch<br />
zu schaffenden und bald darauf schmählich versteigerten deutschen Flotte.<br />
Jahrzehntelang wurde er vielbewundert, als er, seit 1865, seine Neugestaltung<br />
der Nibelungensage öffentlich vortrug, ein überaus stattlicher Mann,<br />
der den von ihm wiederbelebten Stabreim mit vollendeter Sprachkunst<br />
behandelte. In seinem gedanklichen Hauptwerke "Demiurgos" (1852—1854)<br />
hat er fast alle Ideale seiner Jugend abgeschworen: Kosmopolitismus,<br />
Republikanismus, Sozialismus; daraus ist ihm ebensowenig ein Vorwurf<br />
zu machen als etwa uns daraus, daß wir den Rhapsoden vor bald fünfzig<br />
Jahren für einen Dichter ersten Ranges hielten, für einen zweiten Homeros,<br />
und daß wir jetzt in ihm nur noch ein sehr beträchtliches Formtalent sehen.<br />
Die dreibändige, breite und unklare Dichtung „Demiurgos" ist vielfach<br />
reaktionär; in epischen, lyrischen und dramatischen Teilstücken wendet sie<br />
sich gegen die umstürzenden Lehren der Brüder Bauer und Stirners, der<br />
als "Einziger" eingeführt wird; sie ist optimistisch, auch wohl religiös,<br />
darf aber trotzdem für den Atheismus in Anspruch genommen werden;<br />
wenigstens in den sechs Büchern des ersten <strong>Band</strong>es.<br />
Aus dem Abgrund der Zeiten wird unter allen Ketzereien der alten<br />
Kirche die Gnosis heraufgeholt, die vielleicht in ihren kühnsten Verkündern<br />
Jordans „Demiurgos" 263<br />
schon eine gottlose Mystik war, die Gnosis, über die wir die Wahrheit niemals<br />
mit Sicherheit erfahren werden, weil die Väter der herrschenden<br />
Kirche sie mit christlichem Hasse niederzutrampeln und zu fälschen bemüht<br />
waren. Die besten Gnostiker mögen ungefähr gelehrt haben, daß nicht ein<br />
Gott die Welt und den Stoff geschaffen habe, sondern der Demiurg, der<br />
dem Luzifer oder dem Satan verwandter ist als einem Gotte, daß die Erlösung<br />
durch den Geist allein bewirkt werden könne und daß die Schöpfung<br />
des Demiurg sich ohne Gott zum Guten entwickle. Im zweiten <strong>Band</strong>e wagt<br />
es Jordan allerdings, den Teufel selbst einzuführen und ihn neben den<br />
Demiurg zu stellen, Mephistopheles mit Luzifer streiten zu lassen. Sie<br />
werden ungefähr so unterschieden, daß Mephistopheles die Revolution um<br />
ihrer selbst willen fördert, Luzifer nur um höherer Ziele willen; aber beide<br />
reden wirklich nach der gleichen Schablone, die seit Goethes Mephisto benützt<br />
wird. Und die Weltansicht der Gnosis wird doch eigentlich, ganz utilitaristisch,<br />
ohne Mystik und ohne Geistigkeit zu dem Satze verwässert: Was<br />
sich entwickelt, das ist vernünftig. Was Jordan aus diesem Plane gemacht,<br />
nur selten dichterisch gestaltet hat, das ist so ungefähr die Kosmologie einer<br />
Fortschrittspartei, die bei Lord Byron, aber auch bei Victor Hugo in die<br />
Schule gegangen ist.<br />
Vor dem zweiten <strong>Band</strong>e, in einer redseligen Parabase, hat sich Jordan<br />
bitter darüber beschwert, man habe sein Werk ein Afterbild nach Goethe<br />
genannt, ,,nur durchgepinselt durch die Faustschablone". In Wahrheit liegt<br />
der Fall für den Epigonen noch schlimmer: nicht nur, daß der Rahmen der<br />
geringen Handlung eine Wette zwischen dem guten und bösen Prinzip ist,<br />
daß der Held Heinrich heißt und seine Gegenspielerin Helena, daß Heinrich<br />
durch den Demiurges am Selbstmorde verhindert wird, nein, alles ist<br />
Faust-Imitation, bis herab auf die Punkte, durch die allzu grobe Wörter<br />
der Satan-Imitation ersetzt werden. Der Schluß ist vollends ein Abklatsch<br />
von der christelnden Apotheose des Faust. Dennoch und trotz alles gnostischen<br />
und manches theologischen Geredes bleibt der Eindruck haften, daß dem<br />
Dichter seine kirchenfeindlichen und gotteslästerlichen Reime, die nur keine<br />
rechte Schlagkraft haben, den meisten Spaß machten. Nicht nur die<br />
Sozialisten, die Weltverbesserer und die „Freien" (der Kreis von Stirner)<br />
bekennen sich zum Atheismus, sondern auch der Held Heinrich (in dessen<br />
Leibe der Gegner des Demiurgos wohnt, der Agathodämon) meint es<br />
ebenso, wenn er verzweifelt ausruft: "Ein schönes Glück, des Elends Fluch<br />
mit Himmelsmärchen zu betäuben! Ist dieses Land so ausgelaugt, daß es<br />
allein für Mucker taugt, mag die Gesellschaft nur zerstäuben."<br />
Der ganze zweite <strong>Band</strong> der Dichtung ist eine für den Geschichtschreiber<br />
heute noch lesenswerte Satire auf die deutsche Revolution von