29.10.2013 Aufrufe

Band 4 - m-presse

Band 4 - m-presse

Band 4 - m-presse

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

184 Viertes Buch. Fünfter Abschnitt<br />

daß Nietzsche schon damals über Strauß, der ihm immer noch zu theologisch<br />

und zu unheilbar verhegelt schien, an radikaler Kritik weit hinausging: die<br />

orthodoxen Widersacher des Religionskritikers hätten satanische Hintergedanken<br />

hinter dem "Alten und neuen Glauben" gewittert, er habe nichts<br />

derart gefunden und würde sogar, wenn es ein wenig satanischer zuginge,<br />

nicht unzufrieden sein. Mit diesem Satze ist wirklich alles erschöpft, was sich<br />

mit Recht gegen den freudigen Bekenner Strauß einwenden läßt.<br />

Strauß und Eine sehr liebevolle, leider auch etwas schrullenhafte Darstellung der<br />

Kämpfe, in welche Strauß schon durch sein "Leben Jesu" verwickelt war<br />

— innerlich und äußerlich —, besitzen wir von Friedrich Theodor Vischer;<br />

die beiden Freunde waren noch jung, Vischer übrigens der unreifere, als<br />

der Aufsatz „Doktor Strauß und die Württemberger" zuerst in den Halleschen<br />

Jahrbüchern 1838 erschien; Zusätze kamen 1844 hinzu. Wir haben es<br />

noch nicht mit dem selbstbewußten, berühmten alten Vischer zu tun, aber<br />

natürlich schon damals mit einem aufrechten Manne; einige Hegelei muß in<br />

Kauf genommen werden.<br />

Vischer holt weit aus; schwäbische Heimat und Mundart, junges<br />

Deutschland und Wolfgang Menzel, sodann die Krätze des Pietismus<br />

werden abgehandelt, bevor er, der theologische Mitschüler von Strauß, zu<br />

der Leistung von Strauß gelangt, der kein Hegel, kein Kant, kein Luther,<br />

noch viel weniger gar ein Christus sei, aber doch, obgleich wesentlich ein<br />

kritischer und nicht schöpferischer Geist, positiv gewirkt habe durch die Lehre<br />

von der Immanenz Gottes in der Welt. "Strauß will nicht weniger,<br />

sondern mehr Gott, als das supranaturalistische und das rationalistische<br />

Christentum hat."<br />

Vischer war bereits der Prachtkerl, den wir kennen und lieben, da<br />

er 1844 in dem Nachtrage fortfährt, den Freund herauszuhauen; er ist in<br />

den wenigen Jahren freier geworden; Angriffe auf Gutzkow werden halb<br />

zurückgenommen, der Pietismus aber immer noch eine Krätze genannt;<br />

doch jetzt liegt ihm nichts mehr daran, zu behaupten, daß Strauß für die<br />

sogenannte Religion Positives geleistet habe. "Es liegt mir nichts daran,<br />

wenn mir jemand streitig macht, daß, was nach der Kritik der Mythen<br />

zurückbleibt, noch Religion zu nennen sei."<br />

Vischer Als alter Herr hat sich Vischer noch frischer und unabhängiger über<br />

die Geschichte und den Grad seiner Unchristlichkeit ausgesprochen, in den<br />

Selbstbekenntnissen "Mein Lebensgang", die 1874 erschienen und 1882<br />

durch eine sehr lesenswerte Selbstkritik ergänzt wurden. Bereits den Schüler<br />

quälen Einbohrungen in das Gefühl des Nichts und Selbstmordgedanken.<br />

Er wird ein Monist, ein Pantheist, noch bevor er Hegel kennen lernt. Dem<br />

Studium der Theologie verdankt er seine geistige Befreiung. „Wer recht<br />

Fr. Th. Vischer 185<br />

zusieht, wie die Kirche geworden ist, muß auch begreifen, daß sie einst vergehen<br />

wird, und die Geschichte der Dogmen ist die Geschichte ihrer Auflösung<br />

wie ihrer Entstehung . . . Wir waren Pantheisten geworden, aber im Stile<br />

Schellings." Gegen Schleiermacher hat er schon als Jüngling eine unüberwindliche<br />

Antipathie; doch meint er, da er in ein Pfarramt eingetreten ist,<br />

unter Vorbehalten den hergebrachten Religionsunterricht geben zu dürfen.<br />

Aber er fängt an, sich seines theologischen Standes zu schämen, und vertauscht,<br />

männlich entschlossen, die Theologie mit der Ästhetik, noch nicht<br />

ganz dreißig Jahre alt. Damals steckte Hegel dem Freunde Strauß nur noch<br />

wie ein wackliger Zahn im Munde, ihm selbst als ein etwas erschütterter<br />

Stockzahn. Vischer wurde bald Professor, doch schon 1844 für zwei Jahre<br />

"suspendiert", auf Drängen der "Pietisten" ; wir lernen seinen Haß gegen<br />

diese Leute verstehen, die mit den alten guten Pietisten vom Schlage<br />

Speners wirklich keine Ähnlichkeit mehr hatten.<br />

Der Zusatz zum „Lebensgang" ist eine überaus lesenswerte Abhandlung<br />

über seinen Roman; ganz deutlich kommt da heraus, daß der Held der<br />

Geschichte, Albert Einhart, Auch Einer, in Wahrheit Friedrich Theodor<br />

Vischer ist. Ich mache nebenbei darauf aufmerksam, daß die dritte und<br />

letzte Deutung der Initialen A. E. hier hineingeheimnist ist: alter ego.<br />

Da ist es denn für uns um so bemerkenswerter, daß Vischer in dieser Selbstkritik<br />

den Stellen des Tagebuchs, die von der reinen, von der wahren<br />

Religion handeln, eine besondere Bedeutung beimißt. Wir dürfen also<br />

an den Blättern des Tagebuchs (S. 543 ff. der Ausgabe Keyßner) nicht<br />

achtlos vorübergehen, wenn wir Vischers bewußte Stellung zur Kirche<br />

kennen lernen wollen. Der Staatsenthusiast Vischer verachtet das Christentum,<br />

wie die alten Römer es verachteten, weil es apolitisch ist, weil den<br />

wahren Christen der Staat gleichgültig oder ein Ärgernis ist. Keine Religion<br />

ist wahrnehmbar ohne eine Bilderwelt, ohne ein Pigment; die meisten<br />

Menschen glauben an das Pigment und ersparen sich die Religion. Nun<br />

sind immer mehr Menschen aus dieser Bilderwelt hinausgewachsen. "Wer<br />

nur irgend sich etwas umsieht, Handwerker, Arbeiter, Kaufmann, wer<br />

immer von Physik und Geschichte auch nur einigen Lichtstrahl empfängt,<br />

ist rein fertig mit allem, was übersinnliche Figur, was Regierung des<br />

Universums von außen, was Wunder heißt, kurz mit dem ganzen Pigment.<br />

Sie zurückführen in den Glauben daran ist unmöglich, wer seinen Widerstreit<br />

mit Natur- und Denkgesetz erkannt hat, kann nie und nimmer in ihn<br />

zurück." Wer hilft da gegen die Zuchtlosigkeit, deren Todfeind A. E.-Vischer<br />

ist? "Das Moralische versteht sich von selbst." Dieser Lieblingssatz Auch<br />

Einers hilft. Man ist entweder ein sittlicher Mensch oder man ist es nicht.<br />

Moral versteht sich von selbst, kann weder aus Theologie noch sonstwoher

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!