Band 4 - m-presse
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428 Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />
Wortwechsler in die Geborgenheit und Verborgenheit der Mystiker. In<br />
die letzte Einheit, in welcher kein Unterscheid mehr besteht zwischen meinem<br />
Ich und der übrigen Natur, in welcher die Welt oder die Natur nur einmal<br />
da ist, in welcher ein Tautropfen, eine Tanne, ein Tier oder irgendein<br />
anderes Ich, wie z. B. das meinige, nur das gleiche Recht eines Gefühles<br />
hat, ein Traum, ein Werk der Sehnsucht ist, oder eine Illusion und dennoch<br />
das einzig Wirkliche. Und wenn ich diese durchaus nicht verstiegene<br />
Mystik, diesen meinen mystischen Monismus mit heiterer Selbstsicherheit<br />
auch noch gottlos nenne, so muß ich also bekennen, daß ich an dem alten<br />
Worte Mystik einen Bedeutungswandel verübt oder doch einen langsam<br />
werdenden Bedeutungswandel vollendet habe. Man könnte einwenden,<br />
ich hätte dann eine andere Bezeichnung suchen sollen; ich fand aber keine<br />
andere, die verständlicher wäre. Daß der Begriff Mystik verschlissen worden<br />
ist, weniger durch die vernünftigen Angriffe der Aufklärer, als durch den<br />
Mißbrauch, den fromme oder schein-heilige Metaphysiker mit den Geheimnissen<br />
ihrer Inspiration und Intuition getrieben haben, kann mich am<br />
wenigsten kümmern. Kein Begriff ist vor Mißbrauch sicher, auch nicht der<br />
des Unbegreiflichen. Und ganz mein eigen ist immer nur das Unbegreifliche,<br />
das sprachlos Unbegriffliche.<br />
Geschichte Der antike Mystizismus, der uns den Wortschall geschenkt hat, kommt,<br />
der Mystik weil er Wunderaberglaube war, für den neueren Bedeutungswandel<br />
kaum mehr in Betracht; nur daß das Christentum wahrscheinlich einige<br />
Geheimnisse seines Glaubens den antiken Mysterien entnahm und so vielleicht<br />
das Wesentliche der christlichen Mystik, die unio mystica, doch in der<br />
Sehnsucht der alten Geheimbünde ihr Vorbild hatte. Diese unio mystica<br />
mußte in den ersten Jahrhunderten der christlichen Weltherrschaft eine<br />
Vereinigung mit Gott sein oder sie war keine Vereinigung mit dem All-<br />
Einen; die ersten christlichen Mystiker hätten mit Abscheu die Vorstellung<br />
von einer gottlosen Mystik von sich gewiesen. Wir haben aber gesehen<br />
oder ich habe es doch zu zeigen versucht, daß die innigsten Mystiker des<br />
christlichen Mittelalters und auch ihre glühendsten Nachfolger neuerer Zeit<br />
allesamt Ketzer waren, der rechtgläubigen Kirche gegenüber, wenn sie es<br />
auch nicht immer wußten, wenn sie auch die Geheimnisse ihres Glaubens<br />
nur besser zu verstehen meinten als die unveränderliche Kirche; darin lag<br />
eben ihre Ketzerei, daß sie anders waren. Nun wäre es eine gewisse Unwahrhaftigkeit,<br />
wie eigentlich jede Klassifizierung, wenn ich den Abstieg<br />
oder den Aufstieg der gottseligen Mystik bis zu der gottlosen Mystik, die<br />
heute reif zur Gewitterentladung in der Luft liegt, auf vier scharf getrennte<br />
Stufen ordnen und behaupten wollte, die Mystik sei nacheinander katholisch,<br />
christlich, theistisch und pantheistisch gewesen, bevor sie zu einer unio mystica<br />
Geschichte der Mystik 429<br />
ohne Gott werden konnte. Die innigsten und glühendsten Mystiker waren<br />
ja keine Erkenntniskritiker, Gott sei Dank. Ich habe keine Angst vor dem<br />
Worte. Meine Stufen geben nur ein Schema, aber dieses Schema kann<br />
helfen, meine Flucht zu dem ehrwürdigen Zeichen zu rechtfertigen. Wir<br />
Menschen einer Zeit der allgemein geahnten Sprachkritik stehen, wenn<br />
wir z.B. Meister Eckhart lesen, unter dem Zauber seiner urgewaltigen<br />
Sprache, die nicht mehr unsere Sprache ist, und können uns nachher vor<br />
dem unerfreulichen Bewußtsein der Entzauberung oft nur dadurch retten,<br />
daß wir so etwa den Pantheismus Goethes in das Ringen Eckharts hineinlegen.<br />
Können wir uns, was nicht ohne äußerste geistige Arbeit möglich ist,<br />
in die Seelensituationen der einzelnen alten Mystiker hineinversetzen, so<br />
wird unser Schema unrichtig, weil diese "Stummen des Himmels" zu viel<br />
redeten und immer, unbefriedigt von der Sprache ihrer Zeit, Wortembryonen<br />
der folgenden Stufen voraus zu nehmen schienen. Ich darf<br />
also nur mit dem Bewußtsein, Halbwahres vorzubringen, etwa sagen:<br />
Meister Eckhart lebte in katholischer Mystik, der Sinnierer der "Theologia<br />
deutsch" lehrte christliche Mystik, vorher schon näherten sich Ruysbroek und<br />
der Cusaner einer theistischen Mystik und Angelus Silesius gar war nicht<br />
viel anders als sein Zeitgenosse Spinoza, der berüchtigte Fürst der Atheisten,<br />
ein pantheistischer Mystiker. (Über alle diese Männer ist das zum Verständnis<br />
Nötige im zweiten <strong>Band</strong>e dieser Geschichte zu finden.)<br />
In diesem weiten und hohen Umblick über die alten Formen frommer<br />
Mystik finde ich glücklicherweise keinen Raum für eine Unterscheidung<br />
zwischen katholischer und protestantischer Mystik. Von oben gesehen liegen<br />
beide in der gleichen Tiefebene. Das aber soll doch nicht verkannt werden:<br />
die unio mystica, die Sehnsucht nach Einheit mit dem Vater (oder mit<br />
Jesus), mit der Allnatur, verträgt sich sehr gut mit der Religion Jesu Christi,<br />
also auch mit der Religion der inbrünstigen Ketzer, die immer, gegen die<br />
Kirche, die Religion Jesu Christi wieder herstellen wollten: irgendein zeitloses<br />
Urchristentum. Da ist es denn freilich kein Wunder, daß auch Luther,<br />
in der Vollkraft seiner Jugend wenigstens, von der unkirchlichen Mystik<br />
der "Theologia deutsch" ausging, und daß bald darauf ein spanischer Ketzer<br />
das Buch herausgab, das ungefähr unter dem Titel "Schatz der Seele"<br />
mit ungeheurer Wirkung in die meisten Sprachen Europas übersetzt wurde.<br />
Die älteste bekannte Ausgabe ist erst vom Jahre 1548; die spanische Urschrift<br />
(wahrscheinlich "Der Sehnsüchtige" betitelt) ist älter, vielleicht um<br />
einige Jahrzehnte älter. Sehr merkwürdig ist es nun, daß dieser mystische<br />
Wegweiser zu einer liebevollen Vereinigung mit Gott lange Zeit für ein<br />
Werk des Michael Servet galt, des Erzketzers, der nach mehr als tausend<br />
Jahren zum ersten Male wieder das Dogma der Dreieinigkeit verwarf