Band 4 - m-presse
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410 Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />
des „Unsinns" Religion entdeckten; auch ein Australneger könnte freilich<br />
jahrelang unter Christen leben ohne zu entdecken, daß die Christen Religion<br />
haben. Dazu sei nur flüchtig angedeutet, daß die Missionare bei ihrer<br />
rohen Kenntnis der Wildensprachen kaum ohne Gewaltsamkeit ihre abstrakten<br />
Religionsbegriffe und die recht sinnlichen Vorstellungen der Neger<br />
hin und her übersetzt haben werden; namentlich der Gottesbegriff ist in<br />
den Unterredungen zwischen den christlichen und den wilden Medizinmännern<br />
oft nicht ohne blasphemische Übersetzerfrechheit aus der Seele<br />
der Australneger herausgezogen worden; wurde im Südosten Australiens<br />
von einem Urvater des Stammes gestammelt, den man sich dort etwa<br />
verehrungsvoll als ein großes Tier vorstellte, so machten die Missionare<br />
aus dem Urvater einen Vater im Himmel, nannten ihn unseren Vater, und<br />
die Schwarzen sprachen das wohl auch nach. Ist dem so, so leben auf der<br />
weiten Erde (nach einer sehr unzuverlässigen Religionsstatistik) gegenwärtig<br />
über hundert Millionen Menschen ohne Gott, die denn doch nicht frei gewordene<br />
Atheisten sind, nicht Gottlose, die aber zu beweisen scheinen, daß<br />
die Anbetung eines Schöpfers Himmels und der Erden nicht zum Naturzustande<br />
der Menschen gehört. Man wollte denn zu der Verlegenheitshypothese<br />
des Deismus greifen: die Naturreligion oder gar das Christentum,<br />
das gereinigte, sei so alt wie die Welt, die Vorstellungsweise der<br />
heutigen Australneger sei nur eine Verhunzung ihrer ursprünglichen schönen<br />
Naturreligion, ein Abfall vom Vernunftglauben an Gott oder von dem<br />
Glauben an einen Vernunft-Gott. Nur von einem Standpunkt aus, den<br />
die frommen Berichterstatter schwerlich teilen, wäre eine Gleichwertigkeit<br />
der wilden und der zivilisierten Religionen allenfalls festzustellen, wenn<br />
man nämlich die einen wie die anderen als Erklärungsversuche der Welt<br />
auffaßte, als Folgen der menschlichen Neigung, die Ursachen des Geschehens<br />
zu erfahren oder sich doch bei irgendeinem Ursachsworte zu beruhigen;<br />
die armen "Wilden" suchen schon beim Donner, beim Wechsel der Jahreszeiten<br />
usw. nach einer unsinnlichen oder metaphysischen Ursache; die erfahrungsreichen<br />
und vielwissenden Abendländer besitzen einige Physik<br />
und forschen, wenn sie nicht gar zu rückständig sind, metaphysisch nur noch<br />
nach der letzten Ursache.<br />
Der Scheinbeweis für das Dasein Gottes, der aus der angeblichen<br />
Übereinstimmung aller Menschen oder aller Völker geführt wird, leidet<br />
also an einem doppelten Fehler, ganz abgesehen davon, daß er von Hause<br />
aus nur ein sehr mangelhafter Induktionsschluß wäre. Der erste Fehler<br />
besteht darin, daß man eine jede Antwort auf die unzähligen Fragen nach<br />
dem Ursprung rätselhafter Erscheinungen für eine religiöse Antwort ausgibt,<br />
nur um jedesmal von Religion reden zu können, mag es sich nun um<br />
"Allgemeinheit" des Gottglaubens 41 1<br />
den rohesten Fetischismus, um Zauber- und Gespensterglauben, um einen<br />
der ererbten Gottesdienste oder gar nur um eine philosophische Moralbegründung<br />
handeln; jeder fast noch tierische Aberglaube und jede abgeklärte<br />
Weltanschauung wird als eine Religionsform abgestempelt in<br />
der bewußten oder unbewußten Absicht, den Gottglauben, den man am<br />
Ende herausziehen will, vorher in die Antwort hineinzulegen. Der andere<br />
Fehler besteht eben darin, daß man jede Frage (nach der Entstehung des<br />
Donners, nach dem Ursprung der Welt, nach der Herkunft des Lebens<br />
und des Denkens) von vornherein so lange umformt, bis es eine Frage<br />
nach einer ersten Ursache oder einem Gotte zu sein scheint; in Wahrheit<br />
war aber nach einer Ursache überhaupt gefragt worden, vielleicht ganz<br />
unbefangen nach einer natürlichen Ursache; erst dadurch, daß die Religion<br />
die Frage in ihre Sprache übersetzte, schien überall nach einer übernatürlichen<br />
Ursache gefragt zu werden. Es ist nicht alles Religion, was in der<br />
vergleichenden Religionswissenschaft für Religion ausgegeben wird.<br />
Wir gebrauchen aber nicht einmal den gleichen Begriff "Religion"<br />
(und das muß einmal gesagt werden), wenn wir die so ganz und gar verschiedenen<br />
metaphysischen Weltanschauungen auch nur der gegenwärtigen<br />
Völker mit einem und demselben Worte als Religionen bezeichnen, wenn<br />
wir also, um nur die verbreitetsten Formen zu nennen, das Christentum,<br />
den Islam, den Kong-tseismus und den Buddhismus, denen so ungefähr<br />
zusammen über elfhundert Millionen Menschen anhängen, unter den allgemeinen<br />
Begriff Religion bringen. Nicht jede Weltanschauung sollte<br />
Religion heißen.*) Es ist oft eine bewußte, noch öfter eine unbewußte Fäl<br />
*) Es handelt sich mir da nicht einmal um eine ethische Bewertung der verschiedenen<br />
Religionen, obgleich es keinem Zweifel unterliegt, daß nicht die besseren Religionen die<br />
besseren Menschen gemacht haben, sondern umgekehrt die besseren Religionen unter Menschen<br />
mit besseren Trieben entstanden sind. Das ist eines der wichtigsten Ergebnisse des vorzüglichen<br />
Buches, das Otto Seeck (1921) über die "Entwicklungsgeschichte des Christentums"<br />
herausgegeben hat, als einen Auszug eines großen Werkes über die Geschichte des Untergangs<br />
der antiken Welt. Die Vorzüglichkeit dieser Untersuchung von Seeck besteht darin,<br />
daß er der erste Forscher war, der das Aufkommen des Christentums rein als Historiker dargestellt<br />
hat, gar nicht als Theologe. Jesus ist nur Einer der vielen Gottmenschen einer abergläubischen<br />
Zeit, nicht einmal eine einzigartige Persönlichkeit. Seltsam, daß ein so freier<br />
Gelehrter übrigens beinahe konservativ gerichtet ist. — Besonders möchte ich das Buch von<br />
Seeck denjenigen empfehlen, die so unvorsichtig waren, sich Kopf und Magen überladen zu<br />
lassen von dem durch und durch unwahrhaftigen Geschwätz, das der uns von England freundlichst<br />
geliehene Prediger Houston Stewart Chamberlain (ebenfalls 1921) herausgegeben hat,<br />
unter dem Titel "Mensch und Gott, Betrachtungen über Religion und Christentum". Der<br />
Mann, der über Kant und Goethe so viel unverdautes Zeug von sich gegeben hat, hatte aber<br />
unbedingt das Recht, ebenso über Gott und das Christentum sich auszuschleimen. Wer<br />
Seecks Darstellung des Konzils von Nicäa gelesen und verstanden hat, wird das frevelhafte<br />
Salbadern Chamberlains über Gott und Richard Wagner nicht mehr ohne Ekel über sich<br />
ergehen lassen können.