29.10.2013 Aufrufe

Band 4 - m-presse

Band 4 - m-presse

Band 4 - m-presse

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

212 Viertes Buch. Fünfter Abschnitt<br />

Im November 1844 kam also „Der Einzige und sein Eigentum"<br />

heraus, ganz und gar abhängig von der junghegelianischen Strömung,<br />

an vielen Stellen wie zufällig wieder gegen Feuerbach und Bruno Bauer<br />

gerichtet (vernichtend im Grunde, doch scheinbar spielerisch in fast tanzender<br />

Anmut), aber im Grundgedanken so zeitlos, so unzeitgemäß, daß die Zeitgenossen<br />

mit dem tollen Buche nichts anzufangen wußten. Es ist eine<br />

Selbsttäuschung, wenn der verdienstvolle Stirnerjünger Mackay behauptet,<br />

das Werk habe durchgeschlagen, habe Sensation gemacht; die Behörde<br />

legte sofort Beschlag auf das Buch, gab es aber schon nach wenigen Tagen<br />

wieder frei, weil es "zu absurd" sei, um gefährlich werden zu können; dies<br />

war auch ungefähr die Meinung der wenigen Literaten, die das Buch anzeigten.<br />

Es war ein Schlag ins Wasser. Nur etwa bei den Freien in der<br />

Weinstube von Hippel wurde sein Verfasser eine Berühmtheit. Dann das<br />

Schweigen, das Verschollensein. Niemals hat ein bedeutender Geist das<br />

furchtbare Schicksal, lebendig begraben zu werden, so heiter getragen wie<br />

Stirner. Er erstickte lachend. Der erste, der vor Mackay den toten Stirner<br />

wieder erweckte, war nicht Eduard von Hartmann, war auch nicht der gewissenhafte<br />

J. E. Erdmann, sondern F. A. Lange, in seiner "Geschichte des<br />

Materialismus", zwanzig Jahre nach dem Erscheinen des "Einzigen";<br />

Lange nennt es ein berüchtigtes Werk, trennt es aber schon entschieden von<br />

dem Materialismus der damaligen Umwelt.<br />

Die unmittelbare Unwirksamkeit eines so beleidigenden und darum<br />

verführenden, eines so verblüffenden und oft hinreißenden, eines so persönlich<br />

starken Buches wird vielleicht erklärt, wenn wir uns — ganz flüchtig —<br />

des Unterschiedes erinnern, der da zwischen der deutschen Gesellschaft des<br />

Vormärz und etwa der französischen Gesellschaft der Enzyklopädistenzeit<br />

bestand. Dort die Schlösser der vornehmsten Herren und Damen und die<br />

Salons von Paris, die von zielbewußten Freigeistern erobert wurden; hier<br />

eine Kneipe Berlins, in welcher entgleiste Literaten sich damit begnügten,<br />

einander zum Spaß, den Philistern zum Trotz, überlauten und oft unsaubern<br />

Radau zu machen, selbst von Philisterei nicht unberührt. Leute von Namen,<br />

Ruge und Herwegh, waren entsetzt über das Treiben in der Kneipe; und<br />

der Symposiarch Bruno Bauer nahm es Stirner sehr übel, daß er über ihn<br />

hinausgegangen war.<br />

Stirners Buch konnte nicht werben für die Ideen des Verfassers, weil<br />

es dem eigenen engern Kreise unverständlich geblieben war, unverständlich<br />

bleiben mußte. Dieser Kreis berauschte sich — ganz ehrlich übrigens — an<br />

einigen Schlagworten, die von Frankreich (und von England) herübergekommen<br />

waren: politische Freiheit oder Republik, ökonomische Freiheit<br />

oder Kommunismus, religiöse Freiheit oder (ein sehr vorsichtiger) Atheis­<br />

Stirner 213<br />

mus; die Ausdrucksform sehr oft nur ohnmächtige Wut gegen die Gewalthaber:<br />

die Fürsten, die Kapitalisten und die Hierarchie. Bis dann die kleine<br />

Revolution von 1848 der Wut ein wenig Luft machte. Und da wagte der<br />

unbekannte Oberlehrer Johann Caspar Schmidt es, sich auszuschütten vor<br />

Lachen über diese drei Liberalismen, über die Republikaner, die sich von<br />

ihrem Staate erst recht binden lassen wollten, über die Proletarier, die<br />

bürgerliche Lumpen werden wollten, vor allem aber über den Abgott der<br />

religiösen Freidenkerei, über Feuerbach, der den alten Gott zu einem Geschöpfe<br />

der Menschen gemacht hatte, sofort aber an die Stelle des abgesetzten<br />

Gottes eine neue Gottheit stellte, einen neuen Spuk, den es in<br />

der Welt der Wirklichkeiten nicht gab, den Menschen. Man muß sich darauf<br />

besinnen, welche Rolle die Abstraktion „der Mensch" in der Anthropologie<br />

Feuerbachs spielte, eigentlich auch darin, wie Bruno Bauer die Entstehung<br />

der Evangelien auf Massentradition zurückführte (obgleich da die individuelle<br />

Tätigkeit der Evangelisten nicht vergessen wurde), um nachzufühlen,<br />

welchen Schrecken Stirner mit seiner Lehre vom Einzigen erregen mußte.<br />

In diesem Punkte hatte er eine starke sprachkritische Leistung vollbracht, wie<br />

durch eine Explosion. Er hat weder hier noch sonst die Selbstsucht gepredigt,<br />

den sogenannten Egoismus; hat er doch das Sollen überhaupt geleugnet.<br />

Er hat nur, ungleich stärker als je ein Nominalist des Mittelalters, irgendeine<br />

Bedeutung von Allgemeinbegriffen abgelehnt, hat nur den Individuen<br />

Wirklichkeit zugesprochen (sprachlich wundervoll nur dem einzigen Ich),<br />

hat mit einer weit ausgreifenden Sense niedergemäht, was an Begriffen<br />

von Staat, Gesellschaft, Recht, Sitte und nebenbei auch von Religion<br />

hoch in Halmen stand. Niemand hat die Pflicht (übrigens gibt es keine<br />

Pflichten), über seinen eigenen Schatten zu springen. Nur ein Narr dürfte<br />

Stirner darum tadeln, daß er, der das Eine brennend nahe sah, das Andere<br />

gar nicht bemerkte: den wirklichen, unbewußten, ererbten, oft nützlichen<br />

Zusammenhang zwischen dem Einzigen und den übrigen Mit-Einzigen.<br />

Gewiß, Stirner war ein Monomane; besessen wie ein Prophet oder wie<br />

ein Künstler von seiner Eingebung, von seiner Sehnsucht nach freier Aussicht,<br />

wollte er alle Mauern der Tradition stürzen, die im Wege standen;<br />

und weil er keine anderen Mittel besaß als sein Ich, darum rannte er die<br />

Mauern mit seinem Kopfe nieder. Dieselben Tröpfe, die Nietzsche für<br />

unser Geschlecht unschädlich machen wollen durch den Hinweis auf seinen<br />

späteren Wahnsinn, mögen auch über Stirner lächeln und wohlweise<br />

flüstern: "Seine Mutter wurde ja wohl verrückt."<br />

Mit Bedacht habe ich gesagt, unter den Begriffen, die Stirner wie<br />

tote Götzen umgestürzt habe, seien nebenbei die der Religion gewesen.<br />

Stirner war so frei, in der Bekämpfung der Religion keine Lebensaufgabe

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!