Band 4 - m-presse
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180 Viertes Buch. Fünfter Abschnitt<br />
lichkeit der Seele sind im Volksbewußtsein nicht mehr lebendig, mit dem<br />
Opfertode und der Auferstehung Jesu weiß unsere moderne Moral nichts<br />
mehr anzufangen, die Wunder — wenn wir sie uns etwa glaubhaft machen<br />
könnten — müßten der Würde Jesu widersprechen, mit seiner vaterlosen<br />
Geburt endlich sollte man das christliche Gewissen fernerhin nicht beschweren.<br />
Wir besitzen keinen ehrlichen Kultus mehr als den Kultus des Genius;<br />
mag Jesus durch ein Standbild geehrt werden wie Napoleon oder Goethe.<br />
Nicht süßlich wie Renan, doch weich wie ein schwäbischer Repetent will<br />
sich Strauß mit diesem Kultus nicht zufrieden geben. Der Religionsstifter<br />
sei ein höherer Genius als ein Feldherr oder ein Dichter, und wenn das<br />
Christentum die vollkommenste Religion sei, dann gebühre seinem Stifter<br />
eine besondere Verehrung, aber doch nur als dem Ersten unter Gleichen.<br />
Ob es wohl in kommenden Zeiten einen religiösen Genius geben wird,<br />
größer als Jesus? Strauß verneint die Frage. Christus bleibe uns, um<br />
so sicherer, je weniger wir Lehren und Meinungen ängstlich festhalten,<br />
welche dem Denken ein Anstoß zum Abfall von Christo werden können. So<br />
fromm und ketzerisch zugleich schließt das Schriftchen des Dreißigjährigen.<br />
Mehr als weitere drei Jahrzehnte lebt nun der bescheidenere Nachfolger<br />
Lessings, selbst in seiner Stille vorbildlich geworden, seiner Arbeit.<br />
Von keinem Amte gebunden, und doch oft rücksichtsvoll, legt er seinen Landsleuten<br />
ein Buch nach dem anderen vor: manche stilistischen Meisterstücke, der<br />
Theologie scheinbar entfremdet und doch (Julian, Hutten, Reimarus,<br />
Voltaire) viele beinahe wie Beiträge zu einer Geschichte des Atheismus.<br />
Es war aber doch nur das Treiben eines Büchermenschen, eines für eine<br />
freiere Zukunft vorarbeitenden Gelehrten gewesen. Übrigens waren<br />
diese Schriften oft nur mühsam trüben häuslichen Wirrnissen, Folgen<br />
seiner unglücklichen Ehe, abgerungen. Da reißt ihn das Lebenswerk<br />
Bismarcks, vielleicht auch schon die Ahnung des nahenden Kulturkampfs<br />
zu einer zweiten Tat empor. Aus dem süddeutschen Frondeur gegen<br />
Preußen ist Strauß ein Jasager geworden, auch er bewundert des<br />
neuen Reiches Herrlichkeit und erkennt es als seine persönliche Aufgabe,<br />
mitzuwirken an der Einheit, wenigstens für die Gebildeten, die er "Wir"<br />
nennt, durch Vereinigung auf eine neue Weltansicht (er nennt sie wohlbedacht<br />
einen Glauben und nicht ein Wissen), die nicht möglich ist ohne<br />
Vernichtung des alten Glaubens. Und so schreibt er in fliegender Hast sein<br />
Buch „Der alte und der neue Glaube". Er beantwortet darin vier Fragen,<br />
von denen die beiden ersten entscheidend sind und ebenso tapfer wie weise<br />
beantwortet werden: "Sind wir noch Christen? Haben wir noch Religion?"<br />
Es ist bekannt und wir haben die Entwicklung oft genau verfolgt, wie<br />
die gebildete Oberschicht des Abendlandes seit der Renaissancezeit langsam<br />
Strauß: "Alter und Neuer Glaube" 181<br />
aus der Christenheit hinausglitt, d. h. aus der Zugehörigkeit zu der ungeheuren<br />
Menschengruppe, die auf die Glaubenssätze des Christentums verpflichtet<br />
gewesen war. Doch alle führenden Männer hatten sich so oder so<br />
ein Hintertürchen offen gelassen, auch Strauß selber in seinen früheren<br />
Schriften. Für den großbürgerlichen Forscher gehörte also ein gewaltiger<br />
Entschluß dazu, geweckt durch die drei Kriegserklärungen Bismarcks, der<br />
christlichen Gesamtkirche — wenn es eine solche gibt — den Krieg zu erklären<br />
und seine erste Frage klipp und klar mit Nein zu beantworten.<br />
"Wenn wir nicht Ausflüchte suchen wollen, wenn wir nicht drehen und<br />
deuteln wollen, wenn wir Ja Ja und Nein Nein bleiben lassen wollen,<br />
kurz, wenn wir als ehrliche aufrichtige Menschen sprechen wollen, so müssen<br />
wir bekennen: wir sind keine Christen mehr." Strauß erörtert das kurz und<br />
bündig. Wir können in einem Glauben, den wir nicht mehr haben, keine<br />
Stütze suchen für unser Handeln, wir verbinden keinen Sinn mehr mit den<br />
Festen der Kirche und mit ihren Sakramenten, Jesus ist uns nur noch ein<br />
Mensch, der an dem Fortschritte der Menschheit Mitarbeiter vieler anderen<br />
gewesen ist; wir forschen nicht mehr in der Schrift, sondern über die<br />
Schrift.<br />
Nur die deutliche Absage an das Christentum war da das Neue;<br />
eigentlich waren schon die Erben der Socinianer (mit denen sich Strauß<br />
in seiner "Glaubenslehre" — von 1841 — eingehender und vorurteilsloser<br />
beschäftigt hatte als irgendein Kirchengeschichtsschreiber vor ihm)<br />
in Holland, England, Frankreich und Deutschland, waren schon die<br />
Deisten, die Enzyklopädisten und die Aufklärer keine Christen mehr gewesen;<br />
jeder Einzelne baute sich in seinem Herzen irgendeine Naturoder<br />
Vernunftreligion aus und zählte nur noch äußerlich zu einer der<br />
christlichen Kirchen. Toland, Voltaire und Reimarus waren Antichristen.<br />
Doch Toland glaubte dabei (nach Spinoza) an den immanenten Gott<br />
des Pantheismus, Voltaire und Reimarus (darin von Robespierre gar<br />
nicht so verschieden) an das persönliche, transzendente höchste Wesen<br />
der Vernunftreligion. Und darauf scheint es mir bei Straußens<br />
wieder ehrlicher Antwort auf seine zweite Frage allein anzukommen:<br />
„Haben wir noch Religion?" Darauf: dürfen und wollen wir es noch<br />
Religion nennen, wenn wir einen Gott nicht mehr glauben, weder einen<br />
persönlichen, noch einen Gott in der Natur, wenn wir unmöglich mehr<br />
beten können, wenn alle Gottesbeweise uns nichts mehr sagen, wenn wir<br />
das "Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" nur noch dem Universum (das<br />
aber als Einheit der Welt begriffen wird, als ob es ein Organismus<br />
wäre) gegenüber empfinden? Man sieht, Strauß ist ein dezidierter Atheist;<br />
wobei es zu denken gibt, daß er sich bei allen Definitionen auf den Prediger