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Band 4 - m-presse

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94 Viertes Buch. Erster Abschnitt<br />

unter ihnen der unbegabteste Dichter und wußte am besten, was sie alle<br />

wollten. Vom Novalis wurde Goethe für den Statthalter des poetischen<br />

Geistes auf Erden erklärt. Persönlich hätten sie ihn alle gern zum Stifter<br />

ihrer Sekte ausgerufen. In jeder Unterhaltung zwischen ihnen wurde<br />

Goethe zum Orakel; das wurde so unerträglich, daß Steffens, selbst ein<br />

Adept, einmal die Blasphemie ausstieß: „Bleibt mir mit dem verdammten<br />

Goethe vom Leibe!" Das Bild Goethes, das wir alle für die vera ikon<br />

halten und das heute bereits von geheimrätlichen Professoren vor gemischtem<br />

Publikum feierlich nachgezeichnet wird, ist uns nicht erst von Bettina und<br />

den Berliner Jüdinnen überliefert worden; nein, schon die ersten Romantiker<br />

haben Goethe so gesehen und uns ihn so sehen gelehrt, wie sie ihn<br />

sahen. Da wo Heine mit schöner Ehrfurcht von Goethe redet, noch unbeirrt<br />

von der Dichtereitelkeit, die auch in Goethes Gegenwart den Lorbeerkranz<br />

nicht vom Haupte nehmen will, da sieht noch Heine den großen Heiden mit<br />

den Augen von Friedrich Schlegel, vom Novalis und von Tieck. Das Heidentum<br />

störte diese verwegenen Himmelsstürmer durchaus nicht. Der junge<br />

Schelling war noch goethisch genug, sich in Knittelversen zu griechischer<br />

Lebenslust zu bekennen. Und Weltbürger waren sie noch wie Goethe,<br />

Kosmopoliten, wie alle Bewunderer der großen Revolution, wie Georg<br />

Forster. Wackenroder meinte gegen Tieck: "Was will man denn in unseren<br />

Zeiten mit dieser Vaterlandsliebe?" Und für die Freiheit glühten sie wie<br />

Goethes Egmont. Wilhelm Schlegel schrieb für ein Fest des Weimarer<br />

Herzogs ein Festspiel zur Jahrhundertwende. Das neue Jahrhundert will<br />

das alte nicht als Mutter anerkennen; das ruft den Teufel zu Hilfe, wird<br />

aber selbst von ihm geholt. Wer aber sind die Eltern des neuen Jahrhunderts?<br />

Der Genius und die Freiheit. Wir hören von neuem die Schlagworte,<br />

die der Sturm und Drang sich aus Frankreich oder unmittelbar aus<br />

England geholt hatte; und zunächst, wie jetzt die Romantik, auf die Poesie<br />

angewandt hatte. Wie Goethe wollten die Romantiker die Deutschen aus<br />

Philisterketten retten.<br />

Auch Friedrich Schlegel, als Jüngling ein Atheist, bald darauf in<br />

seinen Träumen ein Religionsstifter, nicht im Leben, kam über Goethes<br />

religiöse Stimmung nicht hinaus. "Gefühl ist alles." Man hatte furchtbar<br />

viel gelesen, überblickte mit umfassender Bildung alle Mythologien der<br />

Jahrtausende, Heidentum, Christentum, Pantheismus und den neu entdeckten<br />

Orient dazu, und hatte nun die Qual der Wahl. Man war skeptisch<br />

bis auf die Knochen, verwechselte aber diese Skepsis mit einem Eklektizismus<br />

auf dem Scheidewege. Und weil man — das ist der Kernpunkt — die<br />

Sehnsucht nach einer neuen Religion mit dieser selbst verwechselte, glaubte<br />

man die neue positive Religion gefunden zu haben. Man lief den goldenen<br />

Romantik 95<br />

Schüsselchen nach, auf denen der Regenbogen steht. Man suchte die blaue<br />

Blume. Schließlich wurde der Katholizismus das Philistertum, in welchem<br />

die müden Religionsstifter Ruhe fanden.<br />

Von Hause aus waren die Romantiker recht gottlose Pantheisten.<br />

Natur, Universum, das waren ihre Gottheiten. Selbst der Novalis schrieb<br />

einmal: "Gott hat gar nichts mit der Natur zu schaffen." Und Schleiermacher<br />

war ein arger Heide. Ich könnte es paradox so ausdrücken: die<br />

Romantiker zogen am Ende den Katholizismus vor, weil er heidnischer war<br />

als der Protestantismus und weil das Heidentum die Religion des Lebens<br />

war. Auch spielte ein Wortfetisch mit; "katholisch" heißt eigentlich "allgemein",<br />

und weil man Sehnsucht nach einer Universalreligion hatte, begnügte<br />

man sich mit der katholischen, die sich selbst die allgemeine nannte.<br />

Was Friedrich Schlegel nicht verhinderte, richtig zu sehen, es gäbe so viele<br />

Religionen wie Individuen. Der Gott der Romantiker war das Universum,<br />

aus den besonderen Augen eines Poeten angeschaut; ähnlich wie ein<br />

Menschenalter später bei David Strauß (nicht mehr Gott) nur das höchste<br />

Wesen das Universum war, mit den Augen eines Naturphilosophen betrachtet.<br />

Als 1799 Fichte wegen seines bescheidenen Atheismus verfolgt und<br />

auch von Goethe preisgegeben wurde, fühlten sich alle Romantiker noch mitgetroffen;<br />

Wilhelm Schlegel konnte noch sagen: "Der wackere Fichte streitet<br />

eigentlich für uns alle; und wenn er unterliegt, so sind die Scheiterhaufen<br />

wieder ganz nahe herbeigekommen." Und nach Erscheinen von Schleiermachers*)<br />

Reden über die Religion (im gleichen Jahre 1799) durchschaute<br />

*)Schleiermacher (geb. 1768, gest. 1834) muß ein höchst anregender, ja entzückender<br />

Mensch gewesen sein und hat auf die protestantische Theologie in Deutschland mächtig eingewirkt.<br />

Bald nach seinem Tode hat Gutzkow die „Vertrauten Briefe über Schlegels Lucinde"<br />

in unkritischer Bewunderung neu herausgegeben, und heute noch berufen sich auf Schleiermacher<br />

die Gebildeten, die den Pelz waschen wollen, ohne ihn naß zu machen. Schleiermacher<br />

war aber nur Theologe und verdient keine ehrenvolle Stellung unter den Befreiern des<br />

Geistes. In literarischen und politischen Nebenfragen zeigte er mitunter einige Tapferkeit,<br />

in der Hauptsache fand er nach seiner Jugend niemals mehr den Mut zu einem Bekenntnis.<br />

Zu Anfang des 16. Jahrhunderts war so eine Zurückhaltung noch eines Mannes würdig, zu<br />

Anfang des 19. war sie entweder Unehrlichkeit oder Feigheit. Der berühmte Prediger an<br />

der Berliner Dreifaltigkeitskirche glaubte weder an die Kirche noch an die Dreifaltigkeit; der<br />

Mitarbeiter an der Union glaubte weder an Luther noch an Calvin. Es gibt kaum eine Partei,<br />

der man diesen Schriftsteller nicht zugesprochen hätte, vom Kryptokatholizismus bis zum<br />

Atheismus; daß er in seinem Herzen dem Atheismus sehr nahe stand, ein Unchrist war und<br />

einen persönlichen Gott nicht erfahren hatte, das beweisen Sätze wie: "Wir wissen nur über<br />

das Sein Gottes in uns und in den Dingen, gar nicht aber über ein Sein Gottes außer der<br />

Welt oder an sich." Die endlos zitierte Redensart, Religion sei das Gefühl schlechthinniger<br />

Abhängigkeit, läßt sich nach Bedarf auf jeden Unglauben deuten und auf jeden Aberglauben.<br />

Wenn er einmal das „Wesen" Gottes eine Phantasie nannte, so ist das freilich nicht so gemeint,<br />

gottlos, als wäre Gott nur ein Gegenstand der Phantasie, er meinte etwa: die Schöpfung<br />

sei ein Phantasieprodukt; aber so eine unchristliche Geistreichigkeit hätte der Prediger<br />

Schleiermacher auf der Kanzel niemals vorzubringen gewagt. Es klaffte ein Widerspruch

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