Band 4 - m-presse
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334 Viertes Buch. Reunter Abschnitt<br />
ein um so größerer Künstler.*) Ibsen schloß manchen Kompromiß mit dem<br />
Kunsthandwerk des Theaters, Tolstoi fand sich nur etwa mit dem Leben<br />
ab, immer widerwilliger, je älter er wurde. Er hat übrigens mehr in<br />
Schopenhauer gelesen als inHegel; aber der Einfluß Hegels auf die westlich<br />
gerichteten Rebellen Rußlands, zu denen der theologische Dilettant Tolstoi<br />
denn doch auch gehörte, und erst recht, war zu groß, als daß er sich ihm hätte<br />
entziehen können; der Publizist Herzen, der Anarchist Bakunin und der tonangebende<br />
Kritiker Bjelinskij waren entschiedene Hegelianer, ins Russische<br />
übersetzt, und von ihnen holten sich die beiden Gegner Turgenjew und Tolstoi<br />
ihre philosophischen Schlagwörter, während sie die Muster ihrer Kunstübung<br />
in Frankreich fanden, Tolstoi bereits als vollendeter Naturalist.<br />
Ich habe nicht Raum genug, die Entwicklung Tolstois an seinem<br />
Leben und an seinem dichterischen Schaffen zu verfolgen, obgleich es reizvoll<br />
wäre, die Selbstporträts aufzuzeigen, die er in vielen seiner Helden<br />
geschaffen hat; Rembrandt hat sich selbst nicht öfter gemalt und nicht<br />
sprechender. Auch auf eine Kritik deutscher, freisinniger Gottesgelehrter,<br />
die ihn zu einem von den ihren machen wollen, darf ich mich nicht einlassen;<br />
es würde zu weit führen. Nicht einmal den Weg kann ich nachschreiten,<br />
auf welchem der russische Graf sich aus einem Dandy im Stile von Lord<br />
Byron, aus einem Frauenjäger und Spieler, aus einem eleganten Offizier,<br />
dann endlich aus einem sehr glücklichen Familienvater und fleißigen<br />
Kindererzeuger in einen unchristlichen Frommen wandelte. Nur um den<br />
"Glauben" seiner Spätzeit ist es mir zu tun, über welchen so viel Wirres<br />
gesagt worden ist und welcher just durch diese Verwirrung auf Rußlands<br />
Befreiung mächtig gewirkt hat. Es wird gewöhnlich so dargestellt, als ob<br />
Tolstoi nach überaus weltlichen Jahrzehnten und nach kurzen zwei kirchengläubigen<br />
Jahren, überraschend in seine ganz individuelle Religion hineingesprungen<br />
wäre; wir werden gleich sehen, daß er sich treu geblieben,<br />
daß er gewissermaßen erst zu sich selber gekommen war. Ein Dichter,<br />
der einen Gott suchte, an welchen er eigentlich nicht glaubte.<br />
Wie eine Versteinerung aus einem längst vergangenen Jahrhunderte<br />
ragt Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoi mit seinem "Glauben" in unser<br />
Jahrhundert herein; und doch wieder ein ganz moderner Mensch, ein<br />
Bekenner, als Dichter nahe an die Ganzgroßen zu stellen, doch ein fast<br />
vorbildlicher Charakter durch die Wahrheit und Tapferkeit seiner Seelenkämpfe.<br />
Man tut ihm Unrecht, wenn man ihm einen groben Widerspruch<br />
zwischen seiner Lehre und seinem Leben zum Vorwurfe macht. Es spielen<br />
*) Dostojewski scheint mir trotz seiner Genialität nicht hierher zu gehören; er hat, ein<br />
Psychologe über Balzac hinaus, mächtig auf die neue Psychologie der Moral gewirkt; in der<br />
Psychologie der Religion ist er ein Stockrusse geblieben.<br />
Lew N.Tolstoi 335<br />
da Dinge mit, über welche trotz aller Veröffentlichungen volle Klarheit<br />
nie zu ermitteln sein wird; Tolstoi war vielleicht nur zu schwach und zu<br />
gutmütig, vielleicht aber auch nur gesetzlich verhindert, Frau und Kinder<br />
zur Armut zu verurteilen, am Ende gar nicht so fest, daß er jede Form<br />
der Armut selbst auf sich genommen hätte. Er war e i n Mensch, also ein<br />
Egoist, und blieb auch als Anarchist ein Ästhet. Man mag darüber lächeln,<br />
daß er sich selbst einbildete, mit ein bißchen Holzspalten, das ihm gesund<br />
war, sein Brot zu verdienen, und daß er solche Holzspalterei stolz in sein<br />
Tagebuch eintrug; gegen seine Wahrheitsliebe spricht das nicht. Zum<br />
Martyrium fehlte ihm nicht der Mut, nur das Talent; die Kirche exkommunizierte<br />
ihn, die Regierung ließ ihn laufen. Er wäre offenbar gern hingerichtet<br />
oder doch nach Sibirien verschickt worden.<br />
Als politischer Führer hatte er, wie jetzt die Weltfremdheit der Bolschewiki<br />
beweist, einen ungeheuren Einfluß. (Wenn wir, nicht im Besitze<br />
einer russischen Seele, über das Wesen der Bolschewiki und über ihren<br />
Zusammenhang mit dem Entweder-Oder-Tolstoi auch nur ein armes<br />
Wort äußern dürfen.) Es fehlte nicht viel, und er wäre ein Religionsstifter<br />
geworden. Vielleicht der einzige unter den Vielzuvielen der letzten<br />
Jahrzehnte, wo es doch an Bemühungen zur Schaffung der Zukunftsreligion<br />
nicht fehlte, der das Zeug in sich hatte, ein Religionsstifter zu<br />
werden; nur daß er eine Religion nicht besaß, die er hätte lehren können.<br />
Aber durch den trotzigen und unbequemen Ernst seiner Opferbereitschaft<br />
schien er ein Mensch der guten alten Zeit; er besaß weder die theologische<br />
Leidenschaft des 16., noch den Religionshaß des 17., noch die Aufklärungssucht<br />
des 18., noch die materialistische und historische Stumpfheit des<br />
19. Jahrhunderts; nur die Unklarheit des Erkenntnisdrangs aller dieser<br />
Epochen war in ihm wieder mächtig geworden und schien ihn erst recht<br />
zu einem Religionsstifter zu machen. Was er aber in heißem Bemühen<br />
erreichte, das war doch nur die Negation, eine Kritik der bestehenden<br />
Religion; und die Rechtgläubigen waren nicht zu tadeln, wenn sie ihn<br />
bekämpften; und weil er den neuen Freigeistern, die mit derselben<br />
Religion viel gründlicher fertig geworden waren, nur als Dichter noch<br />
etwas zu sagen hatte, nicht als Denker, so hatte er schließlich bloß an den<br />
Armen am Geiste ein kleines Publikum. Und an den Armen überhaupt,<br />
weil seine Religion in einer jähzornigen Menschenliebe bestand.<br />
Darum war seine Wirkung a u f die abendländische Kultur, wenn<br />
man von Rußland absieht, nur gering; bedeutend dagegen der Reiz seiner<br />
Persönlichkeit, eines Mannes, der alles geprüft und alles verworfen hat,<br />
und der dennoch oder eben darum immer wieder zu den toten religiösen<br />
Problemen zurückkehrt. Ein Gegenstück etwa zu seinem Zeitgenossen