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Band 4 - m-presse

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356 Viertes Buch. Neunter Abschnitt<br />

ihrem Protestantismus, der unsaubersten Art des Christentums. „Ich<br />

erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein<br />

Ankläger in den Mund genommen hat; sie ist mir die höchste aller denkbaren<br />

Korruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch nur möglichen Korruption<br />

gehabt ... Ich heiße das Christentum den Einen unsterblichen Schandfleck<br />

der Menschheit." Diese Anklage will Nietzsche an alle Wände schreiben,<br />

wo es nur Wände gibt (und wieder weiß er, daß er schreit) : "ich habe Buchstaben,<br />

um auch Blinde sehen zu machen."<br />

Kaum ein Gedanke ist in diesem "Antichrist" plakatiert, den Nietzsche<br />

nicht schon in seinem "Zarathustra" unter prachtvollen Symbolen halbversteckt<br />

geflüstert hätte, traurig oder sieghaft, esoterisch; im "Antichrist"<br />

wandte er sich an die Vielzuvielen, die er verachtete. Im "Zarathustra"<br />

hatte er mit leiser Eindringlichkeit zu den freien Geistern gesprochen, die<br />

nach den Deisten, den Aufklärern und den Kritikern zu bewußten Unchristen<br />

geworden waren; im „Antichrist" gab er den Mitläufern, den Bildungsphilistern<br />

Schlagworte gegen das Christentum, die ebenso fanatisch einseitig<br />

waren wie die christlichen Schlagworte. Dieses Buch wurde aber<br />

das wirksamere, weil der schlechtere Nietzsche ebenbürtigere Leser fand und<br />

weil die Tatsache allein, daß eine solche Schrift gedacht, geschrieben und<br />

gedruckt werden konnte, den Bourgeois verblüffte. Der "Antichrist", für<br />

den Dichter des „Zarathustra" kein Ruhmestitel mehr, war geeignet zu<br />

einer Fahne, zu einer Parteifahne. Und Parteimenschen sind eben mit<br />

Notwendigkeit Lügner. Nietzsche beging den Fehler, zu viel beweisen zu<br />

wollen, da er nicht nur die Wahrheit der christlichen Religion umstürzte<br />

— wie so viele freie Geister und Freigeister vor ihm —, sondern auch die<br />

geschichtliche Bedeutung ihrer zeitgemäßen Moral leugnete.<br />

Ich habe schon kurz erwähnt, daß er, was der kritische Philologe nicht<br />

durfte, die Betrugshypothese der Aufklärungszeit wieder aufnahm. In<br />

seinem berechtigten Hasse gegen den (unbewußt) verhegelten Historismus,<br />

der alles Wirkliche für vernünftig erklären wollte (anstatt: für geworden,<br />

für notwendig geworden), übersah er völlig, daß die historische Schule das<br />

unleugbare Verdienst hatte, die Erzeugnisse der Volkspsychologie, wie<br />

Sprache und Religion, als Massenwirkungen zu deuten und nicht mehr<br />

als Leistungen einzelner Menschen, die Religionen nicht mehr als Erfindungen<br />

einzelner Betrüger. Nietzsche bekennt sich zu dieser Betrugshyothese<br />

natürlich nicht mit dürren Worten, sie liegt aber sehr vielen Stellen<br />

zugrunde. Paulus habe die Geschichte Israels gefälscht und sich eine Geschichte<br />

des ersten Christentums erfunden; was er selbst nicht glaubte, das<br />

habe man ihm geglaubt; auch die Lossagung der Judenchristen von den<br />

Juden sei bewußte Schlauheit gewesen. Einmal wird Paulus ein fürchter­<br />

Antichrist Nietzsche 357<br />

licher Betrüger genannt. Die Sünde wird nicht nur als eine Unwahrheit,<br />

sondern auch als eine Erfindung an den Pranger gestellt. Die Heiligen<br />

(ihre Zustände sind epileptoide Formen) seien Verrückte oder große Betrüger<br />

gewesen. Ich füge hinzu, daß in den Fragmenten zu seinem „Hauptwerke",<br />

das doch eine streng wissenschaftliche Arbeit werden sollte, die<br />

Betrugshypothese nicht fallen gelassen wird. Die ersten Christen wollten<br />

etwas durchsetzen, es war eine Art durchdachter Nichtswürdigkeit. Paulus<br />

suchte und fand eine Phantasmagorie, die gegen die Bilder der Geheimkulte<br />

ausgespielt werden konnte. "Man irrt sich, wenn man hier (in der<br />

Priestermacht durch die Lüge) unbewußte und naive Entwicklung voraussetzt,<br />

eine Art Selbstbetrug. Die Fanatiker sind nicht die Erfinder solcher<br />

durchdachten Systeme der Unterdrückung. Hier hat die kaltblütigste Besonnenheit<br />

gearbeitet." Die ganze Lehre vom freien Willen war eine Fälschung,<br />

wurde wesentlich erfunden zum Zwecke der Strafe. Wir kommen<br />

auch in diesen Fragmenten aus ähnlichen Begriffen wie Erfindung und<br />

Fälschung gar nicht heraus; die gesamte christliche Moral wird so dargestellt,<br />

als wäre sie nicht geworden, als wäre sie „gemacht".<br />

Abgesehen von dieser Unfreiheit aus Haß, von diesem Nichtverstehen Fragmente<br />

der gewordenen Geschichte des Christentums sind diese Fragmente zum<br />

Hauptwerke doch wieder erfreulich, wenn man sie mit den überreizten<br />

Absichtlichkeiten des "Antichrist" vergleicht. Im „Zarathustra" hatte<br />

Nietzsche seinen schönen Traum von der gottlosen Zukunftsmenschheit erzählt,<br />

in fast immer farbenglühenden Bildern, in einer ganz eigenen<br />

Sprache; im "Antichrist" war er von seinem Gipfel tief genug hinabgestiegen,<br />

um die von ihm doch überwundene Aufklärung an derben<br />

Schmähungen noch überbieten zu können; in den Fragmenten können wir<br />

den gelehrten Arbeiter belauschen, wie er sich bemüht, den Dichter und den<br />

Propheten in sich zum Schweigen zu bringen, wie er geeignete Bausteine<br />

sammelt für ein festgefügtes Haus seiner Philosophie. Bewunderungswürdig<br />

ist da, wie gewöhnlich an Nietzsche, seine abgründige Seelenforschung;<br />

von jeder Tiefe, die erreicht ist, blickt er furchtlos in die nächste<br />

Tiefe, auf jeder Höhe lockt ihn eine weitere Höhe. Niemals ruht er befriedigt<br />

aus, niemals bleibt er stehen. Auch der Schatten dieses Lichts fehlt nicht.<br />

Er wendet doch wohl, wenigstens subjektiv, wenigstens sprachlich, die dialektische<br />

Methode an, die bei Hegel sich objektiv gebärdete und darum noch<br />

einmal so gefährlich wurde; bei Nietzsche ist es nur die Neigung, sich wie von<br />

jeder Assoziation, so besonders von der Antithese zum Gegenteil, zum Gegensatz,<br />

zum Gegenwort verführen zu lassen. So verletzt er oft den ruhigen<br />

Geschmack durch bloße Wortspiele, noch öfter entwaffnet er den Gegner,<br />

dem er mit blitzschneller Dialektik die bereite Waffe aus der Hand schlägt.

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