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Band 4 - m-presse

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154 Viertes Buch. Vierter Abschnitt<br />

angeregt worden war, wurde nicht wahnsinnig wie Comte, aber er wurde<br />

früh altersschwach; in seiner Autobiographie beugt er sich nur zu oft vor<br />

dem öffentlichen Geiste Englands und predigt salbungsvoll eine kluge<br />

Duldung für jeden Glauben.<br />

Der Entwicklungsgedanke ist eine bewunderungswürdige Leistung<br />

des gegenständlichen englischen Geistes; aber auch die Beschränktheit dieses<br />

Geistes, wo es sich um letzte Fragen handelt, äußert sich in dem Auftreten<br />

von Spencer und Darwin und ihrer besten, wissenschaftlichsten englischen<br />

Verteidiger. Erst in Deutschland wurden — wie gesagt — vorschnell aus<br />

dem Entwicklungsgedanken unkontrollierbare Theorien gezogen und diese<br />

Hypothesen für Dogmen ausgegeben; aber auch erst in Deutschland wurde<br />

sehr bald die Auflösung des uralten Zweckbegriffs als die wichtigste Folge<br />

des Entwicklungsgedankens erkannt; und eine Vernichtung des Zweckbegriffs,<br />

der auch nach den notwendigen Modifikationen des Darwinismus<br />

für die strenge Naturwissenschaft nicht wieder auferstehen wird, muß<br />

eine neue Stellung zu dem sogenannten religiösen Probleme herbeiführen.<br />

Eine Gottesvorstellung ohne Zweckvorstellung hat keinen Sinn mehr; der<br />

englische Agnostizismus aber, der durchaus kein sprachkritischer Agnostizismus<br />

sein will, sucht nicht nur einen Kompromiß mit der Religion, sondern<br />

sogar mit der Kirche. Die Engländer haben ihren Deismus noch nicht überwunden<br />

und tragen ihn mit einer Höflichkeit gegen ihre Bischöfe vor, die<br />

in seiner kühnsten Zeit — vor zweihundert Jahren — nicht ganz so ungefährlich<br />

war wie heute.<br />

Ein starkes Beispiel für diese unwissenschaftliche Höflichkeit und Be­<br />

schränktheit des englischen Geistes bietet der hervorragende Physiker John<br />

Tyndall (geb. 1820 in Irland, gest. 1893), der fünf Jahre lang, von 1848<br />

bis 1853, in Deutschland unter Bunsen und Magnus neben Helmholtz<br />

arbeitete, der wichtige Schriften von Clausius und Helmholtz übersetzte<br />

und der wieder von Helmholtz (und Wiedemann) dem deutschen Publikum<br />

zugeführt wurde. Der Satz von der Erhaltung der Energie ist das Feld,<br />

auf dem Tyndall sich besondere Verdienste erworben hat. Uns hat nur eine<br />

Ansprache zu beschäftigen, die Tyndall 1874 zu Belfast hielt, deren großes<br />

Aufsehen im orthodoxen England für die Orthodoxie charakteristischer ist als<br />

für die Rede. Denn Tyndall war wohl berechtigt, in dem kurzen Vorwort<br />

zu der gedruckten Rede den „Vorwurf" zurückzuweisen, er wäre ein Anhänger<br />

des materiellen Atheismus. (Er sagt nicht: des Materialismus.)<br />

Tyndall gibt nicht mehr und nicht weniger als eine flüchtige Geschichte<br />

einer naturalistischen Welterklärung vom englischen Standpunkte aus. Er<br />

hat von Lange gelernt, Demokritos, Epikuros und Lucretius zu schätzen<br />

und wieder einmal an der Unfehlbarkeit des Aristoteles zu zweifeln. Im<br />

Tyndall 155<br />

Mittelalter sei das hinterlistige Spiel mit der doppelten Wahrheit aus Furcht<br />

getrieben worden. Durcheinander und ohne Klarheit werden Descartes,<br />

Gassendi und Bruno gerühmt, unklar die neue Atomistik in Schutz genommen.<br />

Dann verläßt Tyndall das physikalische Gebiet, um sich der Behandlung<br />

biologischer Fragen durch Darwin und Spencer zuzuwenden. Der<br />

Erörterung entscheidender Begriffe geht er aus dem Wege; Präzision des<br />

Ausdrucks ist seine Sache nicht, wie er denn ganz zuversichtlich von einem<br />

"psychischen Leben" redet, als ob das Leben nicht eine Sache oder eine<br />

Erscheinung für sich wäre und die Psyche eine ganz andere Sache oder<br />

Erscheinung. Er hält es schon für ein ausreichendes Verdienst, daß Darwin<br />

den Anthropomorphismus in der Vorstellung von einem Schöpfer beseitigt<br />

habe. Sehr gut erkennt er, daß die Entwicklung des Lebens auf der<br />

Erde auch nach Darwin ein Geheimnis bleibe, daß die Stärke des Darwinismus<br />

in seiner Methode liege. Nun sollte man meinen, just die Forderung<br />

einer streng wissenschaftlichen Methode müßte den Mann zu einer<br />

Absage an religiöses Denken führen. Weit gefehlt. Gegen den Schluß<br />

seiner Rede warnt er seine aufgeklärten Zuhörer, über das religiöse Gefühl<br />

zu spotten, weil dann nur über nebensächliche Formen gespottet wird,<br />

während die unerschütterliche Basis des religiösen Gefühls in der Natur<br />

des Menschen unberührt bleibt. (Wenn die Basis "unerschütterlich" ist,<br />

liegt doch kein Grund vor, sie nicht sanft oder unsanft "berühren" zu dürfen.)<br />

"Wenn auch viele Religionen der Welt ungeheuerlich waren und noch sind,<br />

wenn auch manche von ihnen gefährlich, ja ohne Zweifel verderblich für<br />

die wertvollsten Privilegien freier Männer gewesen sind und womöglich<br />

wieder sein möchten, so wird es doch weise sein, sie als die Formen einer<br />

Kraft anzuerkennen, die schädlich ist (wenn man ihr gestattet, sich in das<br />

Gebiet des Wissens einzudrängen, über welches sie keine Herrschaft besitzt),<br />

die aber imstande ist, Edles hervorzubringen im Bereiche der Leidenschaft,<br />

welche ihre eigentliche und erhabene Sphäre ist; diesem Gefühle eine<br />

vernünftige Befriedigung zu schaffen, ist heutzutage das Problem aller<br />

Probleme." Ich habe die letzte Periode ohne die geringste Änderung des<br />

Sinnes umstellen dürfen, weil ich deutlicher herausheben wollte, wie vorsichtig<br />

Tyndall, der Physiker, die religiösen Gefühle seiner Landsleute zu<br />

schonen sucht.<br />

Wäre es ihm völliger Ernst gewesen mit einer Anwendung Kantscher<br />

Kritik auf die Entwicklungshypothese von Spencer, so hätte er zu einem<br />

ganz anderen Ergebnisse kommen müssen; selbstverständlich meine ich, daß<br />

er dann zu einem sprachkritischen Ergebnisse hätte kommen müssen, zu<br />

der Einsicht, daß die Welterklärung durch die Gottesvorstellung nicht<br />

weniger aber auch nicht mehr Ehrfurcht verdiente, als andere sehr alte

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