Band 4 - m-presse
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358 Viertes Buch. Neunter Abschnitt<br />
Die Kritik des Christentums, die Kritik der heiligen Lüge, bringt in den<br />
Fragmenten nicht viel Neues, insofern es sich um die christliche Moral<br />
handelt. Das stand für den guten Leser im „Zarathustra" schon größer,<br />
reiner, sonniger. Der gelehrte Philologe, dessen Kleid er dort schon mit<br />
seligem Lachen abgeworfen hatte, meldet sich wieder zum Worte; freilich<br />
ein Überphilologe, dem von seinem Handwerk nicht mehr viel übrig geblieben<br />
ist als der heilige Zorn über den schlechten Stil der Bibel und über<br />
die lächerlichen Interpretationskünste der Rationalisten. Die christlichen<br />
Schriften scheinen ihm einer gründlichen philologischen Bearbeitung gar<br />
nicht würdig zu sein; die Wege eines Reimarus, eines Strauß mag er nicht<br />
noch einmal gehen. Was liegt ihm noch am Christentum? Die Aufklärung<br />
hatte aus den Trümmern der christlichen Dogmen die christliche Moral zu<br />
retten gesucht; Nietzsche nennt seine Lebensarbeit gelegentlich auch noch<br />
Aufklärung, aber seinen Hammer schwingt er nicht mehr gegen die Dogmatik,<br />
die tot ist, sondern just gegen die christliche Moral, die noch für lebendig<br />
gehalten wird, gegen die Sklavenmoral. Weil er Immoralist ist, darum<br />
ist er Antichrist, oder auch umgekehrt; dagegen revoltiert ihn als einen klassischen<br />
Ästhetiker alles, was mit dem Kreuze zusammenhängt. "Man muß<br />
das Kreuz empfinden (also hassen) wie Goethe." Übrigens sei das Neue<br />
Testament schon durch seine Humorlosigkeit widerlegt.<br />
In den menschlichen Handlungen gibt es ein Christentum überhaupt<br />
nicht; der Christ handelt wie alle Welt und nicht nach seinem Glauben;<br />
als privateste Daseinsform, im Konventikel, ist das Christentum möglich,<br />
ein christlicher Staat aber ist ebenso eine Lüge wie eine christliche Heerführung.<br />
Doch nicht einmal Güte ist eine praktische Folge des Christentums;<br />
es führt vielmehr, weil der Einzelne immer nur auf Lohn oder<br />
Strafe im Jenseits hinstarrt, zum äußersten Egoismus. Und an das Wohl<br />
der Gattung, die den Untergang des Schwachen verlangt, darf man schon<br />
gar nicht denken; das Christentum ist das Gegenprinzip gegen die Selektionslehre.<br />
Und selbstverständlich, daß sich Nietzsches Hochmut, Weltbejahung,<br />
Härte, Wahrhaftigkeit so scharf wie möglich gegen die Demut,<br />
Weltflucht, Weichheit und Unwahrhaftigkeit des Christentums kehrt.<br />
Mit einem Worte: das Ideal Nietzsches, der Übermensch, verträgt sich nicht<br />
mit dem alten Ideal des Christentums. Dieses christliche Ideal, die feige<br />
Moral, ist das Kapitalverbrechen am Leben; wer dieses Ideal nicht berührt,<br />
wer nur die christlichen Wissenschaften und Scheinwissenschaften widerlegt,<br />
der hat das Christentum auf eine falsche und nicht bloß schüchterne Weise<br />
angegriffen. "Der ganze absurde Rest von christlicher Fabel, Begriffs-<br />
Spinneweberei und Theologie geht uns nichts an; er könnte noch tausendmal<br />
absurder sein, und wir würden nicht einen Finger gegen ihn aufheben.<br />
Antichrist Nietzsche 359<br />
Aber jenes Ideal bekämpfen wir . . . Ich bin nicht eine Stunde meines<br />
Lebens Christ gewesen."<br />
Nietzsche ist auch als Dichter oft am stärksten, wo er seiner polemischen<br />
Natur die Zügel schießen läßt; nur daß er in seinen Dichtungen Künstler<br />
genug bleibt, den Türkenkopf nicht beim Namen zu rufen, auf den er<br />
gerade einhaut. In seinen Fragmenten ist er immer polemisch, als ob er<br />
nur im Widerspruche denken könnte; und wäre es auch im Widerspruche<br />
mit sich selbst. Ein Kapitel für sich wäre seine Polemik gegen Schopenhauer,<br />
von dem er abfiel, der aber eben doch sein Erzieher gewesen war.<br />
Diesen nennt Nietzsche gewöhnlich seinen alten Lehrer, bevor er ihn verprügelt.<br />
Feuerbach wird gelinder verprügelt, dafür aber auch nicht genannt.<br />
Wie Nietzsche sich in seiner ganzen Übermenschen-Moral erst gewaltsam<br />
straffen muß, zu seinem unmenschlichen Stoßen dessen, was fällt, so<br />
strafft er sich auch zur Intoleranz gegen alles, was von fern etwa christlich<br />
riecht; ausreißen möchte er "das Stück Christentum, das uns allen noch<br />
im Blute steckt". Intolerant will er sein gegen alles, was wider die Natur<br />
ist, und die christliche Moral ist Widernatur. Widernatürlich scheint ihm der<br />
christliche Typus, der nur gegen das Böse Krieg führt, der Typus des<br />
vollkommenen Muckers; aber Nietzsche hat Humor genug, einen feinen<br />
Humor für Wenige, den konsequenten Typus des Buddhismus, der<br />
die Sünde nicht kennt und das Böse nicht haßt, "die vollkommene Kuh"<br />
zu nennen, seinen eigenen Typus gar, den stoischen Einsiedlertypus "den<br />
vollkommenen Hornochsen".<br />
Eine solche bei Nietzsche sehr seltene, bald humoristische, bald ernsthafte<br />
Selbstkritik (sogar sein eigenes Ideal des Übermenschen, des wünschbaren<br />
Menschen, scheint mir, Bd. 15, S. 230, vom Standpunkte des wirklichen<br />
Menschen abgelehnt zu werden) hindert ihn nicht, wie im "Zarathustra"<br />
alle Wertbegriffe der Christenheit zu zerschlagen, ohne die schöne Leidenschaftlichkeit<br />
des Gedichtes, ohne Trauer und Jubel, nüchterner, also für<br />
die Frommen verletzender: die Güte und jeden Idealismus, den Beruf,<br />
das Vaterland, die Familie, die Ehe, die Ordnung, das Recht, die ganze<br />
Schollenkleberei der moralischen Abwertung. Das Dasein ist unmoralisch,<br />
ruht auf unmoralischen Voraussetzungen, und alle Moral verneint das<br />
Leben; der kranke Nietzsche findet i n s i c h die Kraft, in einem unvergleichlichen<br />
Ringen das Leben zu bejahen, sogar den Traumgedanken<br />
einer ewigen Wiederkunft bejahend zu ertragen, und so wurde er zugleich<br />
Immoralist und Unchrist.<br />
Seine Kritik des Christentums wurde durch ihre elementare Kraft Kampf mit<br />
einem jungen Geschlechte — wie gesagt — zur Führerin, obgleich d<br />
Kritik den logischen Fehler hatte, sprunghaft bald das wirkliche, geschichtlich