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Band 4 - m-presse

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174 Viertes Buch. Fünfter Abschnitt<br />

im Schleier der Allegorie sei, dürfe sie nicht eingestehen; sie würde sonst<br />

alle Wirksamkeit verlieren. An den metaphysischen Systemen sei nichts<br />

gewiß als das Kopfbrechen, welches sie kosten. "Ehe man einem etwas<br />

nimmt, muß man etwas Besseres an dessen Stelle zu geben haben." Eine<br />

individuelle Religion für jeden Einzelnen widerstreite der gesellschaftlichen<br />

Ordnung, weil eine dauernde Gemeinschaft nur bei Übereinstimmung<br />

auch in den metaphysischen Grundansichten möglich sei. Das Christentum<br />

habe gegenüber der irdisch gerichteten Antike den großen Vorzug, den<br />

allerdings schon die indischen Religionen besaßen, daß es Weltverachtung<br />

predige und überhaupt auf das Jenseits gerichtet sei. Er leugne gar nicht,<br />

daß der christlichen Moral schwerer nachzukommen sei als etwa der des<br />

Islam (wo bleibt da die Gleichheit der Moral in allen Religionen?), daß<br />

Gewalt und Betrug sich der Herrschaft bemächtigten; solange aber die<br />

rohe Masse für bessere Motive nicht empfänglich geworden sei, müsse sie<br />

durch religiöse und nötigenfalls durch abergläubische Vorstellungen gebändigt<br />

werden.<br />

Philalethes will solchen praktischen Rücksichten keine Überzeugung<br />

opfern. Es sei beschränkt und ungerecht, vom Denker zu verlangen, daß er<br />

die Volksmetaphysik und die Intoleranz der Priester gutheiße. Die Kirche<br />

bemächtige sich der Kinder und präge ihnen die Glaubensartikel bis zu<br />

einer Art partieller Gehirnlähmung ein, so daß später nur wirklich starke<br />

Geister sich befreien können. Während der ganzen christlichen Zeit habe<br />

der Theismus wie ein drückender Alp auf allen geistigen Bestrebungen<br />

gelegen und jeden Fortschritt gehemmt oder verkümmert. Dem Staate<br />

sei Religion nicht nötig. Bei den Griechen und Römern gab es keine Religion<br />

in unserem Sinne und doch habe durchaus keine Anarchie geherrscht.<br />

Religion solle Wahrheit im Gewande der Lüge sein? Dann aber stifte das<br />

Unwahre mehr Schaden, als das Wahre je Nutzen stiften könne. Weil die<br />

Religion ein frommer Betrug sei, könne es eine wahre Religion gar nicht<br />

geben; eine wahre Philosophie aber sei allenfalls möglich. Wenn wir bisher<br />

diese Philosophie nicht besitzen, so sei das hauptsächlich dem Drucke<br />

der Religion zuzuschreiben. Wenn man für das notwendige Übel, das die<br />

Religion bestenfalls sei, Achtung verlange, so stelle man den Grundsatz auf,<br />

der Zweck heilige die Mittel. Die Religion trete mit dem Anspruch auf, im<br />

buchstäblichen Sinne wahr zu sein. Wer die Menschen von einem Irrtum<br />

befreie, der nehme ihnen nichts. "Den Fürsten ist der Herrgott der Knecht<br />

Rupprecht, mit dem sie die großen Kinder zu Bette jagen, wenn nichts<br />

anderes mehr helfen will; daher sie auch viel auf ihn halten." Die Religion<br />

werde vielleicht bald von der europäischen Menschheit scheiden wie eine<br />

Amme, deren Pflege das Kind entwachsen ist, das nunmehr vom Hof­<br />

Schopenhauer 175<br />

meister zu belehren ist. Verteidige man die Religion erst um ihres Nutzens<br />

willen, so sei das der Anfang ihrer Agonie. Aber auch der Nutzen des<br />

Christentums sei fraglich, da die Menschheit durch das Christentum nicht<br />

besser geworden sei; selbst die Päderastie der antiken Welt sei eine Kleinigkeit<br />

gegen die christlichen Greuel. Die Religionen haben sehr häufig einen<br />

entschieden demoralisierenden Einfluß; die meisten Menschen haben es<br />

überall und immer leichter gefunden, den Himmel durch Gebete zu erbetteln,<br />

als durch Handlungen zu verdienen. Die Priester erscheinen fast nur noch<br />

als Vermittler des Handelns mit bestechlichen Göttern. Allerdings treffe<br />

der Vorwurf der Demoralisation nur die monotheistischen Religionen,<br />

weil die Polytheisten tolerant waren. Die Religionsverfolgungen der<br />

Christen und der Mohammedaner werden angeführt, und die Juden kommen<br />

am schlechtesten weg: "Wenn einmal im Lauf der Zeiten wieder ein Volk<br />

erstehen sollte, welches sich einen Gott hält, der ihm die Nachbarländer<br />

schenkt, die sodann als Länder der Verheißung zu erobern sind, so rate<br />

ich den Nachbarn solches Volkes, beizeiten dazu zu tun und nicht abzuwarten,<br />

daß nach Jahrhunderten endlich ein edler König Nebukadnezar komme,<br />

die verspätete Gerechtigkeit auszuüben, sondern solchem Volke zeitig die<br />

Verheißungen auszutreiben, wie auch den Tempel des so großmütig die<br />

Nachbarländer verschenkenden Gottes bis auf den letzten Stein zu zermalmen<br />

— und das von Rechts wegen." Die Religionen seien nicht die<br />

Befriedigung, sondern der Mißbrauch des metaphysischen Bedürfnisses<br />

der Menschen. "Überdies könnte man anführen, daß die geoffenbarten<br />

Religionen zur Philosophie sich gerade so verhielten, wie die Souveräne<br />

von Gottes Gnaden zur Souveränität des Volkes; weshalb denn die beiden<br />

vorderen Glieder dieser Gleichung in natürlicher Alliance ständen."<br />

Philalethes gibt sofort zu, daß dieses letzte Argument ein Sauhieb<br />

war und die Pöbelherrschaft verteidigte, den Erzfeind aller Ordnung und<br />

Humanität. Das Gespräch, das sich ja im Grunde gar nicht um die Wahrheit<br />

der Religion drehte, sondern nur um ihre Nützlichkeit, endet ohne jeden<br />

Groll mit munteren Sprüchen. Die Religion habe ein freundliches und<br />

ein finsteres Gesicht, und jeder von beiden habe ein anderes ins Auge gefaßt.<br />

Philalethes bleibt bei dem spanischen Wort: "Hinterm Kreuze steht<br />

der Teufel."<br />

Der "Dialog" über die Religion mußte hier einen so breiten Raum<br />

beanspruchen, weil Schopenhauer sich sonst niemals so redselig über seine<br />

Stellung zum Gottesbegriff ausgesprochen hat; aber jedermann weiß,<br />

daß dieser Wahrheitsfanatiker an hundert Stellen, die zu sammeln nicht<br />

nötig ist, sein Bekenntnis zum unbedingten Atheismus klar niedergelegt<br />

hat; auch dort überall, wo er nicht müde wird, den verhaßten Schelling

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