Band 4 - m-presse
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374 Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />
assimilierte Juden sich bewußt der Christenheit zuzählen und im Sinne<br />
von D. F. Strauß sagen können: "wir Christen". Daß Hauptmann übrigens<br />
den konsequenten Naturalismus Zolas längst überwunden hat, ist<br />
für unsere Frage ohne Bedeutung; man wollte denn "Naturalismus" im<br />
alten theologischen Sinne und das gleiche Schlagwort im neuen literarischen<br />
Sinne miteinander verwechseln.<br />
Der literarische Naturalismus war ebenso gottlos, nur brutaler in der<br />
Form, wie die pantheistische Richtung der Theologie, die man im 18. Jahrhundert<br />
naturalistisch genannt und damit in Verruf gebracht hatte. Da<br />
war aber aus dem literarischen Naturalismus eben ein ganzer deutscher<br />
Dichter hervorgegangen, Gerhart Hauptmann (geb. 1862), sonst kein Bewältiger<br />
abstrakter und geistiger Fragen, aber mit einem zweiten Gesicht<br />
begabt für alles, was er gestaltete, der zuerst in "Hanneles Himmelfahrt",<br />
dann in dem großen Epos „Emanuel Quint" unkirchlich fromm den Jesus<br />
der Legende neu sehen lehrte, mit den Augen eines mitleidenden Weltkindes,<br />
eines gottlosen Dichterpsychologen. Man hat den Titel des Romans<br />
nicht genau genug gelesen: "Der Narr in Christo Emanuel Quint". Natürlich<br />
will der Dichter, der keine polemische Natur ist, zunächst nur etwa<br />
sagen, sein armer Held sei ein Narr, ein Tor in Gott, vor Gott, kirchlich<br />
gesprochen, wie er denn überhaupt im ganzen Buche den Ton eines einfältigen<br />
Chronisten mit der Sprachkunst Kleists (im "Kohlhaas") köstlich<br />
festzuhalten weiß; darunter verbirgt sich aber sicherlich noch ein anderer<br />
Sinn des Titelworts: eine psychopathische Studie will er geben, eine Darstellung<br />
des Narren, des Heilig-Wahnsinnigen*) in dem Erlöser, mit künstlerischer<br />
Weisheit nicht an dem historischen Jesus, sondern an einem modernen,<br />
wiedergeborenen. Ebenso naturalistisch wie die ersten Dramen<br />
Hauptmanns waren; nur daß der Naturalismus diesmal nicht schmutzige<br />
Körper, vielmehr die reinste Seele zu malen hat.<br />
Den gleichen Stoff, nicht eine Pathologie des Religionsstifters, wohl<br />
aber die Wiederkunft Christi, hat Goethe in einem seiner größten Pläne<br />
zu gestalten begonnen, im "Ewigen Juden". Der Goethe fast ebensolange<br />
beschäftigt hat wie der "Faust", der aber ein Fragment geblieben ist, ein<br />
*) Es wäre möglich, daß Hauptmann auch von einem wilden Aphorisma Nietzsches<br />
angeregt worden wäre, aus der "Fröhlichen Wissenschaft". Der "tolle Mensch" zündete da<br />
am hellen Vormittage eine Laterne an, lief auf den Markt und schrie unaufhörlich: "Ich<br />
suche Gott." Nur daß bei Nietzsche nicht nur Christus gemordet, sondern auch Gott selbst<br />
tot ist. "Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben?<br />
Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung?" Und daß über den Mord an Gott<br />
ein Triumphgesang angestimmt wird. "Es gab nie eine größere Tat, — und wer nur<br />
immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als<br />
alle Geschichte bisher war." Der tolle Mensch stimmt in den Kirchen zur äußersten Verhöhnung<br />
ein Requiem aeternam deo an.<br />
Gerhart Hauptmann 375<br />
erster Fetzen. Nicht einmal eine Anregung Hauptmanns durch Goethe<br />
behaupte ich; nur die Ähnlichkeit der Aufgabe. Und die wieder nur, um<br />
auf den Unterschied aufmerksam zu machen: im Zeitalter der deistischen Aufklärung<br />
spricht sich der junge Goethe (1774) seine Abneigung gegen Luther<br />
(Reformation hätt' ihren Schmaus<br />
und nahm den Pfaffen Hof und Haus,<br />
um wieder Pfaffen 'nein zu pflanzen,<br />
die nur in allem Grund der Sachen<br />
mehr schwätzen, wen'ger Grimassen machen)<br />
vom Herzen und seinen Haß gegen das Kreuz<br />
(er war nunmehr der Länder satt,<br />
wo man so viele Kreuze hat<br />
und man für lauter Kreuz und Christ<br />
ihn eben und sein Kreuz vergißt),<br />
läßt den Heiland — so war gewiß der Plan — abermals kreuzigen, wendet<br />
sich aber, wie schon Lessing, nur gegen die christliche Religion, nicht gegen<br />
die Religion Christi, vergißt bei allem Übermut nicht die Ehrfurcht gegen<br />
den Sohn Gottes oder des Menschen; hundertfünfzig Jahre später hat<br />
Hauptmann für den gottsuchenden Zimmermannssohn nur noch Liebe und<br />
Mitleid, weist in hundert Parallelen auf die Identität von Jesus und<br />
Emanuel hin und scheut — dichterisch, nicht religionsgeschichtlich — vor<br />
dem Äußersten nicht zurück: der sich selbst für den Christus hielt, war ein<br />
über Menschenmaß guter, in seiner Anempfindung genialer, an Verstand<br />
aber schwachsinniger, degenerierter Kranker. Dazu eine Kritik der bestehenden<br />
Kirche und ihrer Diener, überzeugender als in irgendeiner<br />
Tendenzschrift, eben durch die chronikartige Sachlichkeit; unvergeßlich, wie<br />
vor dem bettelnden Narren in Christo (am Schlusse) alle Türen zugeschlagen<br />
werden, von Schlesien bis zu den Alpen. Ein prachtvolles Symbol der<br />
Anklage, dieses Aberhundert von Türenzuschlagen. "Emanuel Quint" ist<br />
ein Andachtsbuch von gottloser Frömmigkeit. Es ist 1910 erschienen;<br />
Hauptmann war bereits ein Mann von fast fünfzig Jahren geworden, aber<br />
die neue Jugend, die sich an Ibsen, Tolstoi und Nietzsche gebildet hatte,<br />
erkannte ihre eigene Stellung zum Christentume wieder in dem heiligen<br />
Narren.<br />
Mir ist es in diesem letzten Abschnitte zunächst darum zu tun, die<br />
Wahrheit der Sätze erkennen zulassen, die in dem Vorworte zum ersten<br />
<strong>Band</strong>e stehen: "Die Literatur der Gegenwart ist überhaupt gottlos. Die<br />
Geisteswissenschaften möchten zwar eine Verbindung mit der Theologie