Band 4 - m-presse
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222 Viertes Buch. Sechster Abschnitt<br />
Materialist weiß Alles besser") hatte alle Antworten auf ewige Fragen<br />
schnell bei der Hand: die Welt war entstanden wie etwa eine Uhr ohne<br />
Uhrmacher, die Gedanken der Seele entstehen wie irgendein anderes<br />
Exkrement des Leibes. Und trotz alledem: die deutschen Materialisten<br />
nach 1848 waren prächtige Befreier, solange sie sich — wie Vogt und<br />
Moleschott — mit irdischen Dingen begnügten und sich nicht — wie Büchner<br />
und Haeckel — einbildeten, sie wären Philosophen.<br />
Die deutsche Philosophie hatte über fünfzig Jahre lang, in der Theorie,<br />
den Idealismus und Supranaturalismus gelehrt, zugleich aber sich auf<br />
die rasch erstarkten Naturwissenschaften berufen, mit genauer Sachkenntnis<br />
bei Kant, mit Eifer bei Schopenhauer, mit dem schlechten Gewissen der<br />
Unwissenheit bei Schelling und bei Hegel. So war der Boden vorbereitet<br />
für einen erneuten Materialismus. Aber zu einer Mode wurde dieser<br />
gänzlich verstiegene, dogmatische Materialismus, gestützt von dem einseitig<br />
berechtigten Mechanismus der Physik und Chemie, erst, als der Idealismus<br />
abgewirtschaftet hatte, und zwar durch eine Tatsache, die schon früher<br />
den Sozialismus gezeitigt hatte: durch die unzweifelhaften Erfolge, auf<br />
die sich der naturwissenschaftliche Betrieb in allen Techniken berufen konnte.<br />
Der neue Reichtum der Fabrikanten forderte als begleitende Weltansicht<br />
den Materialismus, als Gegenbewegung die Hebung des Loses der Arbeiter.<br />
Die Halbgebildeten des dritten Standes ergriffen diese Gedanken<br />
schnell, weil sie die ewigen Fragen so einfach zu beantworten schienen;<br />
der vierte Stand schloß sich der Bewegung an, eben darum und aus<br />
Pfaffenhaß und weil man den Armen und Elenden versprach, jetzt würde<br />
das Paradies auf Erden Wirklichkeit werden. Aus Frankreich war der<br />
Positivismus, aus England der Utilitarismus schon vorher wirksam zu<br />
Hilfe gekommen. In Deutschland sind seitdem Vogt und Moleschott halb<br />
vergessen, Büchner ist einem nicht ganz gerechten Spotte anheimgefallen,<br />
nur Haeckel hat noch seinen Anhang; in Italien werden Moleschott und<br />
Büchner immer noch, von dem geistigen Mittelstande, mit Verehrung<br />
genannt.<br />
Psychologie Und doch haben die Jahrzehnte des Materialismus auch der Wissenschaft<br />
einen bleibenden Gewinn gebracht: der Erforschung des Geistes,<br />
der sogenannten Psychologie. Einen Gewinn der Befreiung, den man<br />
meist so ausdrückt: die Psychologie gehört nicht mehr zur Philosophie.<br />
Oder auch: es gibt nur noch eine Psychologie ohne Psyche. Daß bei der<br />
Neubegründung der Seelenlehre durch den Empirismus, bei der physiologischen<br />
Psychologie also, nach endlosen Versuchen sehr wenig herausgekommen<br />
ist, tut nichts zur Sache. Langsam wurde durch die Arbeiten<br />
der englischen, französischen und deutschen Gelehrten der ganze Spiritualis<br />
Psychologie 223<br />
mus beseitigt (freilich oft nur durch das gleichwertige Schlagwort Voluntarismus<br />
ersetzt, denn unter "Voluntarismus" und einem Primat des<br />
Willens hat man sich von Schopenhauer bis heute recht verschiedene<br />
Begriffe vorgestellt) und so der Weg gebahnt, den Begriff "Geist" als<br />
den Begriff einer eigenen unkörperlichen Substanz aufzulösen. Noch nicht<br />
sprachkritisch, aber doch so, daß die Wirkung auf die anderen „Geisteswissenschaften"<br />
nicht ausblieb. Ich erinnere nur daran, daß der Gott des<br />
Glaubens und der Kirche unter den Oberbegriff „Geist" gefallen war<br />
und nun obdachlos wurde in der Sprache, wie er vorher obdachlos geworden<br />
war durch Erforschung des Himmelsraums.<br />
Einer der ersten und stärksten Bekämpfer des Seelen-Aberglaubens Karl Vogt<br />
war Karl Vogt (geb. 1817, gest. 1895), der streitbare Physiologe; er sagte<br />
„einigermaßen grob, daß die Gedanken in demselben Verhältnis etwa zu<br />
dem Gehirne stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den<br />
Nieren". (Ein grobes Wort kann nicht zugleich fein sein; der Vergleich der<br />
unstofflichen Gedanken mit den Stoffen Galle und Urin erklärt nichts,<br />
beschreibt nicht einmal etwas.) Dieser neue zynische Ton, der durch seinen<br />
Sachwitz über den Wortwitz etwa der Spöttereien Voltaires hinausging,<br />
ohne für seinen Kirchenhaß eine so schlagende Formel zu finden wie das<br />
"Ecrasez l'infâme" wurde in Deutschland rasch beliebt; wir haben schon<br />
gesehen, wie der spätere Feuerbach sich ohne Erfolg bemühte, diesen<br />
Zynismus nachzuahmen.<br />
Der anstößige Vergleich zwischen den Gedanken und dem Urin findet<br />
sich (S. 206) in den „Physiologischen Briefen", die Vogt 1847 herausgab;<br />
sie sind meist in sehr guter, ruhig überzeugender Sprache geschrieben und<br />
bekämpfen den theologischen Dualismus von Seele und Leib ohne krassen<br />
Materialismus, ohne alle Rätsel des Lebens lösen zu wollen. Wie in<br />
politischen und religiösen Fragen, so folgte Vogt auch in der Physiologie<br />
den besten französischen Vorgängern,*) verdiente jedoch seinen Ruhm, weil<br />
er die Ergebnisse fremder und eigener Forschung selbständig und vorsichtig<br />
kritisch zusammenfaßte, dabei in seiner Beteiligung am öffentlichen Leben<br />
(nach 1848 gehörte er für kurze Zeit der Reichsregentschaft an) ein aufrechter<br />
Mann blieb.<br />
Seinen Standpunkt unzweideutig erklärt und seinen besten Witz aufgewandt<br />
hat Vogt in der Hitze und Hetze des Materialismus-Streites, in<br />
einem Pamphlet; das ist 1854 gegen den unglücklichen Physiologen<br />
*) Auch die berüchtigte Gleichung (Gedanke — Galle — Urin) stammt von Cabanis<br />
(1758—1808), der einmal die Gedanken die Exkremente des Gehirns genannt und auch<br />
schon gesagt hatte: "Les nerfs voilà tout l'homme". Und der Arzt Cabanis war der<br />
kenntnisreichere Schüler des Système de la nature.