Band 4 - m-presse
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Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />
einem einzigen selbstverständlichen Guß." Die katholische wie die evangelische<br />
Ethik ist jenseitig, geht den modernen Menschen also nichts mehr an.<br />
"Der ganze Gottglaube der Christen bedeutet heute für den modernen<br />
Menschen nicht mehr als eine taube Nuß." Selbst die Heilslehre Jesu<br />
Christi sagt ihm nichts mehr, "mit einer einzigen Armbewegung schiebt<br />
er das alles von seines Lebens Tisch herunter; nichts, aber auch gar nichts<br />
mehr kann er damit beginnen." Nichts mit Sünde, Ewigkeit, Taufe.<br />
Christentum und Kirche führen nur noch ein Scheindasein. "Die Worte<br />
des Predigers vernimmt er wie Worte einer fremden, ihm ungeläufig<br />
gewordenen Sprache ... Und wenn er das Gotteshaus verläßt, ist<br />
ein Gefühl müder Langeweile und mißmutiger Öde der Rest der Stimmung,<br />
die er mit heim bringt." Er kennt nur noch ethische und ästhetische<br />
Werte. "In ihrer Verlassenheit klammern sich die Kirchen besinnungslos<br />
an den heutigen Staat . . . Man stempelte sich selbst durch diese Anklammerung<br />
an den Klassenstaat zu einer Klassenkirche." (Göhre hätte<br />
hinzufügen können, daß alle Kirchen sich im Kriege auch zu militaristischen<br />
Hilfsanstalten stempelten.) Schon gibt es eine halbe Million deutscher<br />
Menschen, die auch äußerlich keiner Kirche mehr angehören. Das Ansehen<br />
der Geistlichen ist gesunken, gesellschaftlich wie wissenschaftlich. Nur noch<br />
als Zeremonienmeister bei festlichen und traurigen Gelegenheiten treten<br />
sie in Dienst. Die katholische Kirche sucht die Rettung in einer bisher unerhört<br />
dichten Abschließung ihrer Gläubigen von dem modernen Lufthauch;<br />
sie konserviert sich durch Versteinerung. Der orthodoxe Protestantismus<br />
blickt sehnsüchtig nach dieser Kirche. Aber auch der liberale Protestantismus<br />
steht vor dem Bankerott. Die Gleichgültigkeit ist da, wächst zu erbitterter<br />
Feindschaft, zu ingrimmiger Verachtung. "Das Schicksal des Christentums<br />
ist besiegelt; keine Macht des Himmels und der Erde wird es mehr wenden.<br />
Seine Kraft ist erschöpft; das ewige Naturgesetz erfüllt sich auch an ihm."<br />
Es kann freilich noch lange fortvegetieren, bei den Ungebildeten, bei den<br />
Bauern, den Paganen, wie einst das Heidentum; „auch das Christentum<br />
erlebt heute schon seinen Paganisierungsprozeß."<br />
Nach so völliger Preisgabe des Christentums stellt nun Göhre die<br />
Frage, wie das erhalten werden könne, was er — ohne eine Definition zu<br />
versuchen — die "Religion" nennt. Die Herkunft des religiösen Gefühls<br />
wird aus dem ehrfürchtigen Staunen abgeleitet, das sich z. B. an den<br />
Tod, an das Traumleben knüpft. Nun sei aber alle bisherige Religion<br />
Gottreligion gewesen (natürlich, wenn man das Staunen von Anfang an<br />
auf einen Gott bezog); die Tatsache, daß der Buddhismus keine Gottreligion<br />
war, wird doch christelnd beiseite geschoben. So kommt Göhre zu dem<br />
Schlusse, auch die Religion der Zukunft werde Gottreligion sein müssen;<br />
Göhre 387<br />
und hat darin ganz recht, daß, was Monismus, Sozialismus, Ästhetik<br />
oder Ethik (oder ein Sammelsurium von ihnen) dem Volke als die<br />
Lehre von den letzten Dingen feilbieten, doch nicht Religion heißen sollte.<br />
Wir werden gleich sehen, wie Göhre sich davor geschützt hat, mit dieser<br />
Forderung einer künftigen Gottreligion zu den Pfaffen zurückzuschwenken.<br />
Er läßt übrigens nichts nach von den tapferen Sätzen seiner einleitenden<br />
Kapitel; die Gesetzmäßigkeit alles Geschehens bleibt bestehen, die Illusion<br />
der Hoffnung auf eine göttliche Hilfe, der Verzicht auf eine Erkennbarkeit<br />
oder Erlebbarkeit Gottes, dieser Fata Morgana. Kindliches Gestammel<br />
nicht nur die alten Dogmen, sondern auch alle Versuche liberaler Protestanten,<br />
die Wissenschaft mit irgendeiner Form des Pantheismus zu versöhnen.<br />
Und so lehrt Göhre mit der Inbrunst eines Mystikers das Dasein<br />
eines unbekannten, unerkennbaren, unnahbaren Gottes; "ein Magnetberg<br />
in schwarzer Nacht, der gleicherweise dich anzieht und weit von sich abhält."<br />
Das ganze entscheidende fünfte Kapitel ist dem fromm-konfessionslosen<br />
Nachweise gewidmet, daß Gott ein einziges Rätsel sei, mit den Zangen<br />
des Gebetes nicht gepackt werden könne, dem Menschen niemals nahekomme.<br />
"Auch Jesus täuschte sich die Nähe Gottes nur vor." Und dennoch:<br />
bei dieser Gottesferne doch Gottesgewißheit. An der Wahrhaftigkeit<br />
Göhres ist nicht zu zweifeln. Er weiß, daß sein Gefühl, das er Religion<br />
nennt, nur Poesie ist, nur ungestillte Sehnsucht, ein Drang zur Tat; er<br />
ist ganz allein, ganz selbständig, ganz unabhängig, weil seine Gottheit verhüllt<br />
ist. Sein Glaube verpflichtet ihn zur Tat im Sozialismus.<br />
In den Versuch, der Religion des ungekannten Gottes sogar einen<br />
Kultus beizulegen, will ich Göhre nicht folgen; ich könnte mich sonst leicht<br />
verführen lassen, über diese christelnden Nachahmungen von Sonntagsfeiern<br />
(warum nicht Dekaden?), Namensfeiern, Lebensweihen, Eheweihen<br />
und Begräbnisweihen ein wenig zu spotten und zu fragen: ob Orgelspiel,<br />
Gesang, feierliche Worte und ein feierlicher Wortmacher auch in der<br />
Religion der Zukunft unbedingt nötig seien. Um so schöner ist manches,<br />
was im "Ausklang" zusammengefaßt wird. „Gott nicht schauen, in alle<br />
Ewigkeit nie schauen, und dennoch seiner gewiß sein . . . Religion ist<br />
schlechthinnige Unabhängigkeit von Gott . . . Gott um Hilfe bitten, ist<br />
Unglaube . . . Unglaube, der auf Anlage und Überzeugung ruht, ist<br />
genau so berechtigt, gesund und natürlich, genau so edel und menschenwohlgefällig<br />
wie Glauben, aus gleichem Boden erwachsen."<br />
Dieser letzte Gedanke muß auch den Widerwilligen mit Göhres Ausführungen<br />
versöhnen. Das Bekenntnis zu einem Gotte — und wäre es<br />
auch nur der unbekannte Gott— will keine neue unduldsame, verfolgungssüchtige<br />
Kirche sein. G ö h r e gibt s e l b s t zu, daß sein Gottglaube nur subjektiv