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Band 4 - m-presse

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386<br />

Viertes Buch. Zehnter Abschnitt<br />

einem einzigen selbstverständlichen Guß." Die katholische wie die evangelische<br />

Ethik ist jenseitig, geht den modernen Menschen also nichts mehr an.<br />

"Der ganze Gottglaube der Christen bedeutet heute für den modernen<br />

Menschen nicht mehr als eine taube Nuß." Selbst die Heilslehre Jesu<br />

Christi sagt ihm nichts mehr, "mit einer einzigen Armbewegung schiebt<br />

er das alles von seines Lebens Tisch herunter; nichts, aber auch gar nichts<br />

mehr kann er damit beginnen." Nichts mit Sünde, Ewigkeit, Taufe.<br />

Christentum und Kirche führen nur noch ein Scheindasein. "Die Worte<br />

des Predigers vernimmt er wie Worte einer fremden, ihm ungeläufig<br />

gewordenen Sprache ... Und wenn er das Gotteshaus verläßt, ist<br />

ein Gefühl müder Langeweile und mißmutiger Öde der Rest der Stimmung,<br />

die er mit heim bringt." Er kennt nur noch ethische und ästhetische<br />

Werte. "In ihrer Verlassenheit klammern sich die Kirchen besinnungslos<br />

an den heutigen Staat . . . Man stempelte sich selbst durch diese Anklammerung<br />

an den Klassenstaat zu einer Klassenkirche." (Göhre hätte<br />

hinzufügen können, daß alle Kirchen sich im Kriege auch zu militaristischen<br />

Hilfsanstalten stempelten.) Schon gibt es eine halbe Million deutscher<br />

Menschen, die auch äußerlich keiner Kirche mehr angehören. Das Ansehen<br />

der Geistlichen ist gesunken, gesellschaftlich wie wissenschaftlich. Nur noch<br />

als Zeremonienmeister bei festlichen und traurigen Gelegenheiten treten<br />

sie in Dienst. Die katholische Kirche sucht die Rettung in einer bisher unerhört<br />

dichten Abschließung ihrer Gläubigen von dem modernen Lufthauch;<br />

sie konserviert sich durch Versteinerung. Der orthodoxe Protestantismus<br />

blickt sehnsüchtig nach dieser Kirche. Aber auch der liberale Protestantismus<br />

steht vor dem Bankerott. Die Gleichgültigkeit ist da, wächst zu erbitterter<br />

Feindschaft, zu ingrimmiger Verachtung. "Das Schicksal des Christentums<br />

ist besiegelt; keine Macht des Himmels und der Erde wird es mehr wenden.<br />

Seine Kraft ist erschöpft; das ewige Naturgesetz erfüllt sich auch an ihm."<br />

Es kann freilich noch lange fortvegetieren, bei den Ungebildeten, bei den<br />

Bauern, den Paganen, wie einst das Heidentum; „auch das Christentum<br />

erlebt heute schon seinen Paganisierungsprozeß."<br />

Nach so völliger Preisgabe des Christentums stellt nun Göhre die<br />

Frage, wie das erhalten werden könne, was er — ohne eine Definition zu<br />

versuchen — die "Religion" nennt. Die Herkunft des religiösen Gefühls<br />

wird aus dem ehrfürchtigen Staunen abgeleitet, das sich z. B. an den<br />

Tod, an das Traumleben knüpft. Nun sei aber alle bisherige Religion<br />

Gottreligion gewesen (natürlich, wenn man das Staunen von Anfang an<br />

auf einen Gott bezog); die Tatsache, daß der Buddhismus keine Gottreligion<br />

war, wird doch christelnd beiseite geschoben. So kommt Göhre zu dem<br />

Schlusse, auch die Religion der Zukunft werde Gottreligion sein müssen;<br />

Göhre 387<br />

und hat darin ganz recht, daß, was Monismus, Sozialismus, Ästhetik<br />

oder Ethik (oder ein Sammelsurium von ihnen) dem Volke als die<br />

Lehre von den letzten Dingen feilbieten, doch nicht Religion heißen sollte.<br />

Wir werden gleich sehen, wie Göhre sich davor geschützt hat, mit dieser<br />

Forderung einer künftigen Gottreligion zu den Pfaffen zurückzuschwenken.<br />

Er läßt übrigens nichts nach von den tapferen Sätzen seiner einleitenden<br />

Kapitel; die Gesetzmäßigkeit alles Geschehens bleibt bestehen, die Illusion<br />

der Hoffnung auf eine göttliche Hilfe, der Verzicht auf eine Erkennbarkeit<br />

oder Erlebbarkeit Gottes, dieser Fata Morgana. Kindliches Gestammel<br />

nicht nur die alten Dogmen, sondern auch alle Versuche liberaler Protestanten,<br />

die Wissenschaft mit irgendeiner Form des Pantheismus zu versöhnen.<br />

Und so lehrt Göhre mit der Inbrunst eines Mystikers das Dasein<br />

eines unbekannten, unerkennbaren, unnahbaren Gottes; "ein Magnetberg<br />

in schwarzer Nacht, der gleicherweise dich anzieht und weit von sich abhält."<br />

Das ganze entscheidende fünfte Kapitel ist dem fromm-konfessionslosen<br />

Nachweise gewidmet, daß Gott ein einziges Rätsel sei, mit den Zangen<br />

des Gebetes nicht gepackt werden könne, dem Menschen niemals nahekomme.<br />

"Auch Jesus täuschte sich die Nähe Gottes nur vor." Und dennoch:<br />

bei dieser Gottesferne doch Gottesgewißheit. An der Wahrhaftigkeit<br />

Göhres ist nicht zu zweifeln. Er weiß, daß sein Gefühl, das er Religion<br />

nennt, nur Poesie ist, nur ungestillte Sehnsucht, ein Drang zur Tat; er<br />

ist ganz allein, ganz selbständig, ganz unabhängig, weil seine Gottheit verhüllt<br />

ist. Sein Glaube verpflichtet ihn zur Tat im Sozialismus.<br />

In den Versuch, der Religion des ungekannten Gottes sogar einen<br />

Kultus beizulegen, will ich Göhre nicht folgen; ich könnte mich sonst leicht<br />

verführen lassen, über diese christelnden Nachahmungen von Sonntagsfeiern<br />

(warum nicht Dekaden?), Namensfeiern, Lebensweihen, Eheweihen<br />

und Begräbnisweihen ein wenig zu spotten und zu fragen: ob Orgelspiel,<br />

Gesang, feierliche Worte und ein feierlicher Wortmacher auch in der<br />

Religion der Zukunft unbedingt nötig seien. Um so schöner ist manches,<br />

was im "Ausklang" zusammengefaßt wird. „Gott nicht schauen, in alle<br />

Ewigkeit nie schauen, und dennoch seiner gewiß sein . . . Religion ist<br />

schlechthinnige Unabhängigkeit von Gott . . . Gott um Hilfe bitten, ist<br />

Unglaube . . . Unglaube, der auf Anlage und Überzeugung ruht, ist<br />

genau so berechtigt, gesund und natürlich, genau so edel und menschenwohlgefällig<br />

wie Glauben, aus gleichem Boden erwachsen."<br />

Dieser letzte Gedanke muß auch den Widerwilligen mit Göhres Ausführungen<br />

versöhnen. Das Bekenntnis zu einem Gotte — und wäre es<br />

auch nur der unbekannte Gott— will keine neue unduldsame, verfolgungssüchtige<br />

Kirche sein. G ö h r e gibt s e l b s t zu, daß sein Gottglaube nur subjektiv

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